Es war spät abends, als C. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Zauberberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Sanatorium an. Lange stand C. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.
So ähnlich beginnt „Das Schloss“ von Franz Kafka. Und so ähnlich – von der Stimmung her – beginnt Krystian Lupa seine Dramatisierung des 1924 veröffentlichten 1.000-Seiten-Romans „Der Zauberberg“, die am Dienstag im Salzburger Landestheater Premiere hatte. Denn der polnische Regisseur, der 2019 bei den Wiener Festwochen „Proces“ nach Kafka realisiert hat, setzt auf düstere Bilder, gespenstische Momente, absurde Situationen. Er tränkt die Handlung „nach Thomas Mann“ atmosphärisch in Franz Kafka und mischt sie mit Tadeusz Kantor („Die tote Klasse“) ab.
Von der Originalsprache bleibt nicht viel übrig: „Der Zauberberg“ ist eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Jaunimo Teatras in Vilnius, mit dem Krystian Lupa bereits „Heldenplatz“ (nach Thomas Bernhard) und „Austerlitz“ (nach W. G. Sebald) machte. Der inklusive einer Pause fünfeinhalbstündige Abend (bis Mitternacht!) ist daher in litauischer Sprache – und für die Übertitelung wurde Mann ins Deutsche rückübersetzt.
Aber Krystian Lupa arbeitet ohnedies lieber mit der Pranke, nuanciertes Spiel ist ihm eher unwichtig: Donatas Želvys setzt als Hans Castorp immerzu den gleichen, ausdruckslosen Blick auf. Ja, dieser Ingenieur für Schiffbau, zu Beginn 23 Jahre jung, geht in den Keller lachen. Er ist ein Verlorener, im Gebirge der Welt abhandengekommen.
Überforderung
Der Abend beginnt recht stark – mit einer collageartigen Überforderung: Wer da nicht mit Vorwissen einsteigt, steigt gleich aus. Es gibt zwar eine Erzählstimme (aus dem Off), die Basisinformationen aber projiziert der Regisseur nur auf den Gazevorhang an der Rampe: Castorp fährt zu seinem Vetter Joachim Ziemßen ins „Klimasanatorium“.
Dann beginnt der Film: Der Mann, dunkelhaarig und schon jetzt mit Bart (statt erst in sieben Jahren), sitzt im Coupé, alles verzerrt, und vor dem Fenster tun sich Unterwasserlandschaften auf. Wenig später sieht man Bilder des Krieges. „Die Katastrophe kommt plötzlich und aus dem Nichts.“ Dann hebt sich der Vorhang: In einer tapezierten Kammer liegt ein Mann, eben Castorp, auf dem Stahlrohrbett, daneben sitzt eine rothaarige Frau, die als Clawdia Chauchat in Erscheinung treten wird. Ein Vorgriff also. Das Wort „Kafka“ fällt.
Und dann schleichen Gestalten heran, einer von ihnen trägt eine gestreifte KZ-Uniform. Viel, viel später erst wird klar: Für Lupa ist nicht, wie für Thomas Mann, der Erste Weltkrieg die Katastrophe, sondern das NS-Regime. Zwischendurch, beim Karnevalsabend im Sanatorium, taucht unter den Kostümierten auch Charlie Chaplin, der den großen Diktator gab, auf.
Mit der illustren Schar an Gästen und dem Alltag – Matas Dirginčius als unauffälliger Ziemßen erklärt, wie man eine Decke richtig um den Leib wickelt – hält sich Lupa nicht auf. Das Thema Zeit (sie spielt verrückt) behandelt er adäquat, in erster Linie interessiert ihn aber die Liebe als Konstrukt (beginnend mit dem Lichtbildervortrag von Dr. Krokowski) und die sehr zögerliche Affäre von Castorp mit Chauchat. Die Russin erinnert ihn an seinen homoerotisch verehrten Jugendfreund, was Lupa unerträglich plump nachstellt: Eine der drei Chauchat-Darstellerinnen verkörpert den Hippe im Matrosengewand ...
Bleischwerer Tod
Die Abfolge ist handwerklich perfekt, aber wenig innovativ: Szene auf der weiten Bühne mit Projektionen und in fahlen Farben, Filmsequenzen mit Albträumen, Zwischenspiel vorne an der Rampe, Szene im klaustrophobischen Kämmerchen – und darüber ein Close-up von Castorp mit Live-Video.
Lupa gelingen imposante Bilder, ein düsterer Maschinen-Röntgen-Raum von Professor Behrens sowie dessen angestaubter Salon. Beim Philosophieren und Politisieren drehen die Männer, darunter der Pazifist Ludovico Settembrini und sein Gegenspieler Leo Naphta, ihre Runden im winterlichen Hof, der wie ein Gefängnis wirkt. Und wenn Ziemßen stirbt, werden die Wände bleischwer.
Das Dinner mit Mynheer Peeperkorn, dem neuen Begleiter von Chauchat, inszeniert Lupa aufdringlich als Letztes Abendmahl. Dessen verzweifelt herausgebrüllte Botschaften vor dem Selbstmord gehen im Tosen des Wasserfalls unter – und mit den Wassermassen fallen ausgemergelte Leiber herunter. Damit hätte der Abend enden können. Doch die „Winterreise“ ist noch lange nicht zu Ende: Die Inszenierung wird immer extremer zu einem kakofonischen Kunstradio.
Lupa selbst hat sich von Anfang an als innere (und sehr tiefe) Stimme Castorps eingebracht, er murmelt zentrale Wörter und Halbsätze auf Deutsch. Mit Fortgang aber wird das Gebrabbel völlig unverständlich. Das hätte durchaus Wirkung, wenn der Regisseur nicht Maß und Ziel aus den Augen verloren hätte.
Bereits zur Pause hatte die Hälfte das Weite gesucht. Der Rest war zum Schluss uneins: Manche jubelten, die meisten klatschten sanft ermattet.
Kommentare