Keiner weiß, wie lange es noch dauert, bis das hart rockende Virus das Gebäude verlassen wird, aber es könnte sich ziehen. Manche Dinge, die für uns einmal selbstverständlich waren, könnten für immer verschwinden.
Vielleicht werden uns unsere Enkel ja einmal fragen: Opa, das gab es wirklich? Konzerte mit Tausenden Zuschauern, die miteinander gesungen und getanzt und einander Bier über den Kopf geschüttet und manchmal sogar betrunken im Schlamm von Nordburgenland geschlafen haben? (Und Stars auf Welttournee, die altersmäßig zur Risikogruppe gehört haben?)
Und vielleicht werden wir ihnen dann ein Live-Album auflegen und sagen: Ja, so hat sich das einmal angehört.
In Zeiten der Pandemie bleibt uns gar nichts anderes übrig, als das Konzerterlebnis aus der Konservendose zu löffeln: Rock around the Wohnzimmersitzlandschaft!
Rückblende
Vor 50 Jahren, im Herbst 1970, als die Angst vor schlechtem Impfstoff geringer war als die vor schlechtem LSD, kam die für manche wichtigste Live-Platte aller Zeiten heraus. Die Rede ist von „Get Yer Ya-Ya’s Out“ von den Rolling Stones.
(Und ja: Wir wissen, dass solche Wertungen ziemlich dings sind, andererseits: Ganz ohne sie wäre es auch fad.)
Die damals bereits totgesagte Band (immerhin war Mick Jagger schon 27!) zeigte sich darauf mit ihrem neuen Gitarristen Mick Taylor in großer, schneidend scharfer Form: „The greatest rock’n’roll band in the world, the Rolling Stones!“
Wie sehr die Aufnahmen aus New York im Studio übermalt wurden – die Stones neigten live immer schon zu Setzungsrissen im Sound – ist umstritten. Und genau das macht auch die Aura eines großen Live-Albums aus: Dass man darüber streiten kann, wie live es eigentlich ist.
Zehn Jahre später
Ich bin gerade zwölf Jahre alt geworden und ein vor Sehnsucht nach dem Leben rotbackiger Stones-Fan. Dass ich die echten Rolling Stones nur zwei Jahre später sehen würde (und dass sie grauenhaft spielen würden), das ahnte ich damals nicht.
Im Plattenregal meiner Stiefmutter entdeckte ich „Get Yer Ya-Ya’s Out“, stahl die Platte sofort und spielte sie fortan ununterbrochen, und zwar genau genommen bis heute. Und da kam mir meine in unzähligen Stunden Karl-May-Lesens gestählte Fantasie-Muskulatur zu Hilfe: Ich musste beim Hören nur das Licht abdrehen und stand schon im Madison Square Garden und hörte den Durchsager rufen: „Are you ready?“
Schnell fand ich heraus, dass all die fantastischen, einschüchternd großen Stars, die damals nie nach Wien kamen, weil die Tourpläne selten östlicher als bis München reichten, Live-Alben herausgebracht hatten. Diese Platten halfen mir, zumindest in meiner Vorstellung aufregendere Erlebnisse zu haben als ein Ludwig-Hirsch-Konzert.
(Ludwig Hirsch war der erste, den ich live sah. Und es war eh großartig ... aber halt im Brauhofsaal Mödling.)
Absolut live!
Ich kaufte und hörte: Rod Stewart, „Absolutely Live“. The Doors, auch „Absolutely Live“. Supertramp, „Paris“. The Who, „Live At Leeds“. Deep Purple, „Made In Japan“. The Stranglers, „Live X-Cert“. KISS, „Alive“. Cheap Trick, „At Budokan“. Bob Dylan, auch „At Budokan“. Michael Schenker Group, nochmal „At Budokan“.
Und natürlich alle Live-Platten von den Rolling Stones, besonders gern mochte ich „Still Life“. Weil es so klang, wie die Stones 1982 im Praterstadion klingen hätten können, wären nicht Keith Richards und/oder der Soundtechniker blunzenfett gewesen.
Meinen ersten, lebensgefährlich tief schmerzenden Liebeskummer überstand ich nur, indem ich „Under My Thumb“ in Dauerschleife hörte: Under my thumb, the girl, that once had me down!
Kinderjause
Bis heute sammle ich Live-Alben wie andere Menschen Kühlschrank-Magneten, Plastik-Dinosaurier oder Facebook-Likes.
Für uns Stones-Fans ist derzeit ohnehin Kinderjause: Gleich zwei neue, also alte, Livemitschnitte sind gerade herausgekommen.
Zu gut
Auf der – überaus geschmackssicher – restaurierten Neuauflage des 1973-er-Albums „Goats Head Soup“ findet sich auch der sagenumwobene Konzertmitschnitt „The Brussels Affair“.
Auf diesem spielt die Band, sich um ihren frei aufgeigenden Lead-Gitarristen Mick Taylor scharend, völlig entfesselt. Gleichzeitig tut das Zuhörern fast weh: Man merkt, warum Mick Taylor auf Dauer nicht in die Band passte – er war so gut, dass die Band neben ihm manchmal schlechter klang.
„Steel Wheels Live, Atlantic City, New Jersey“ stammt von der Stones-Reunions-Tournee 1989/’90. Mick Taylors Nachfolger Ronnie Wood passt hervorragend in die Gruppe, die trotz Unterstützung von Bläsern und Background-Sängerin manchmal klingt wie eine Schülerband. Da alle aber immer genau im gleichen Groove straucheln, klingt das Konzert einfach umwerfend gut.
(Und ja: Staatlich geprüfte Bootleg-Experten kennen beide Aufnahmen natürlich schon länger. Aber jetzt dürfen auch wir Normalkäufer tüchtig zugreifen.)
Ohne Maske
Keiner weiß, wie lange das Virus noch auf der Bühne bleibt. Nur kurz, wie die Beatles (nachzuhören auf „At The Hollywood Bowl“), oder bis ans Ende aller Kräfte, wie Bruce Springsteen (zu erleben etwa auf „Live 1975– 85“)? Bis es wieder richtige Konzerte gibt, müssen wir uns mit Live-Platten behelfen. Aber immerhin: Man muss dabei nicht einmal Maske tragen, das Bier ist besser und das Klo sauber.
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