Kauzige Typen
Nun hat Guédiguian eine weitere filmische Liebeserklärung an sein Marseille verfasst – an die Rue d’Aubagne in einem der Ausländerviertel Marseilles mit ihren kauzigen, eigenwilligen Typen, an die kleinen Läden dort, den Zusammenhalt unter den Menschen. Zentrum des Films ist wie so oft seine Ehefrau und Muse Ariane Ascaride, Rosa, die trotz ihres anstrengenden Jobs als Krankenschwester die Familie zusammenhält und sich ihre eigene Lebenslust nicht verderben lässt. Mit von der Partie sind natürlich auch die üblichen Verdächtigen der Guédiguian-Filme wie Jean-Pierre Darroussin, Robinson Stévenin, Lola Naymark und Grégoire Leprince-Ringuet.
„Ich arbeite seit Jahren mit ihnen“, brummt Robert Guédiguian zufrieden, angesprochen auf seine Schauspielergang. „Das hat nur Vorteile. Wir kennen uns, haben Vertrauen zueinander, keiner hat Angst, etwas Dummes zu sagen oder Fehler zu machen. Bei Freunden braucht man die nicht haben. Im Gegenteil: Wir fühlen uns frei, neue Dinge auszuprobieren. Unsere Grenze ist die Freiheit“.
Hier daheim
Dreht er immer in Marseille, weil er sich dort sicher fühlt, jeden Winkel kennt? „Vom ersten Film an, den ich dort drehte, fühlte ich eine Art Legitimität, das zu tun. Wenn du einen Film machst, riskierst du immer was. Es kann sein, dass dir vor Ort Misstrauen oder offene Antipathie entgegenschlägt. In Marseille habe ich diese Befürchtung nicht. Es ist meine Stadt, ich kenne die Leute. Hier bin ich daheim, auch wenn ich viel Zeit in Paris verbringe“.
Würde er sagen, seine Filme über die kleinen Leute, von deren Problemen er – ähnlich wie der Brite Ken Loach – geradezu zärtlich erzählt, sind politisch? „Es ist für mich durchaus eine politische Entscheidung, im links regierten Marseille Filme zu drehen. Ich erzähle Geschichten wie die von Rosa, von ihrem Exmann, der nach Jahren im Knast wieder auftaucht, von ihren Töchtern und Schwiegersöhnen, die konträrer nicht sein könnten. Menschen mit unterschiedlichen Charakteren an einem Ort. Geschichten, die eines eint: das Menschliche. Humanität ist überall, Humanität ist ein universeller Wert. Ob das politisch ist? Wir alle nützen unsere eigene Erfahrung als politisches Statement. Was wir tun, was wir sagen, wie wir leben“.
Die Hoffnung lebt
In seinen filmischen Statements der Menschlichkeit lässt Guédiguian nie die Hoffnung sterben. Wirkt das in unserer krisenhaften Zeit nicht wie eine Utopie? „Das Anschauen eines Films ist für die Zuseher immer so etwas wie eine Offenbarung. Trotz der gesellschaftlichen Krise und der Desillusionierung können die Charaktere eines Films Perspektiven geben, vor allem, was die zwischenmenschlichen Beziehungen betrifft. Die Liebe, die sie erfahren, die Freundschaft, den Zusammenhalt untereinander. Darin steckt immer die Hoffnung, eine Gemeinschaft zu bilden und zusammen zu halten. Das spürt, denke ich, auch mein Publikum“.
Kein Netflix-Marseille
Arbeiten Ariane und er eigentlich zusammen an einem Projekt, wälzen sie gemeinsam Pläne für einen neuen Film? Ariane Ascaride, die neben Guédiguian sitzt, lacht laut auf: „Nie, niemals! Als ich jung war und wir unseren ersten Film zusammen drehten, dachte ich noch naiv, ich muss mich einbringen. Das Resultat war, dass wir uns so zerstritten, dass wir uns trennten. Filmemachen ist nun einmal ein hierarchischer Prozess. Der Regisseur bringt seine Sicht der Dinge ein und wir Schauspieler spielen. Ja, ich kann sagen, das und das gefällt mir am Script nicht, aber normalerweise gefällt es mir und ich mag das, was er vorgibt“.
Bei der Netflix-Erfolgsserie „Marseille“ mit Gérard Depardieu als korruptem Stadtkaiser, die die Stadt vor ein paar Jahren in den Fokus rückte, sind sich Ascaride und Guédiguian übrigens zu hundert Prozent einig: „Ein Horror, Schrott! Wie kann man unser Marseille nur so darstellen.“
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