KURIER: Ende des 20. Jahrhunderts haben sich drei Studierende in Gießen überlegt, wie sie das Theater modernisieren können. Stimmt das so irgendwie?
Stefan Kaegi: Ja, es gab bei uns ein Bedürfnis nach mehr Realität im Theater. Die Zeit war geprägt durch formale Experimente oder das Dekonstruieren klassischer Texte. Das hat uns nicht interessiert. Wir dachten: Das Leben selbst schreibt tolle Geschichten. Wir wollten sie neu einrahmen, sie nicht nur über den Text umsetzen. Und wir wollten nicht, dass Schauspieler das Leben nachstellen. Wir haben daher Menschen, zum Beispiel Lastwagenfahrer oder Callcenter-Mitarbeiter, eingeladen, auf der Bühne über ihre Biografien zu sprechen. Oder die Zuschauerinnen motiviert, die Stadt mit Kopfhörern zu erwandern – sie vor ihrem inneren Auge quasi als inszenierten Film zu erleben. Wir erfinden gerne neue Formate von Theater, um über Gesellschaft im größeren Zusammenhang nachzudenken.
Der Name ist aber erst später entstanden, richtig?
Ja, wir haben uns zuerst Haug/Kaegi/Wetzel genannt, dann kam für eine Zeit lang noch Bernd Ernst dazu, und vier Namen wären echt kompliziert gewesen. Daher haben wir einen prägnanten Namen gesucht. Das Protokoll interessiert uns, weil es auf der einen Seite um Repräsentation geht. Für den Empfang der Stadt Salzburg von Frau Merkel bei den Festspielen gibt es eben einen protokollarischen Ablauf, das ist eine Inszenierung von Macht, könnte man sagen. Und andererseits ist Protokoll eine dokumentarische Mitschrift von Geschehnissen. So hatten wir schon die Hälfte des Namens.
Und wieso Rimini? Da denkt man eher an Urlaub …
Wir waren, ehrlich gesagt, noch nie in Rimini gewesen, als wir den Namen gefunden haben. Es gibt keine inhaltliche Begründung, aber bei dem, was wir machen, schwingt ja auch Sinnlichkeit mit. Wir dachten: Rimini Protokoll klingt gut. Dreimal I, dreimal O. Hat funktioniert.
Rimini Protokoll übersiedelte nach Berlin – und hat dort mittlerweile ein riesengroßes Produktionsbüro?
Riesengroß nicht, aber es arbeiten neun Produktionsleiterinnen und Produktionsleiter daran, unsere Ideen umzusetzen. Das sind ja zum Teil sehr komplexe, künstlerisch ambitionierte Projekte.
Sie haben mit „Experten des Alltags“ wie auch mit Wissenschaftern viele Themen – vom „Kapital“ bis zum Klimawandel – aufbereitet. Nun begeben Sie sich auf ein neues Feld, denn Sie kombinieren Experten aus der Gehirnforschung mit Tanz.
Sasha Waltz hatte die Idee, mich als fachfremden Dokumentartheaterregisseur einzuladen, ein Tanzstück zu inszenieren. Sie interessierte der gesellschaftliche Blick auf Tanz – und lockte mich damit aus meiner Komfortzone. Ich brachte die Neurowissenschaften ins Spiel, die sich der Frage widmen, was unser Ich eigentlich ist, und schlug vor, auf die Bühne einen riesigen Spiegel zu stellen. In der Psychoanalyse ist der Spiegel ja eine Metapher für die Auseinandersetzung mit dem Ich, aber immer für den Einzelnen. Hier jedoch sind es mehrere Hundert, die sich in einem dynamischen Gruppen-Selfie erkennen können.
Es geht aber nicht um Selbstbespiegelung: Der Titel „Spiegelneuronen“ bezieht sich auf Vorgänge im Gehirn.
In den 90er-Jahren hat man diesen Begriff erfunden, um zu erklären, wie Empathie entsteht. Wie kann es sein, dass es mich schmerzt, wenn ich beobachte, wie jemand gegen die Wand läuft? Weil das Gehirn alles nachvollzieht. Und daher gibt es ähnliche Endorphin- oder andere Hormonausschüttungen. Das ermöglicht eine gewisse Form von Gesellschaft, eben weil wir keine solipsistischen Einzel-Bubbles sind. Wir fühlen uns vielleicht manchmal einsam, aber wir bilden die anderen permanent in uns ab. Und daher kommt in unserer Arbeit etwas Weiteres hinzu: Normalerweise ist man im Theater gezwungen, still zu sitzen. Für die jüngere Generation ist das viel schwieriger, einfach weil sie gewohnt sind zu interagieren und miteinander Dinge auszutauschen. In „Spiegelneuronen“ gibt es daher die Möglichkeit, sich zu bewegen. Denn die Tanzenden sind mitten im Publikum.
Sie hoffen, dass sich möglichst viele anstecken lassen?
Evolutionsbiologisch übernimmt man Impulse und Gesten von anderen, man kopiert sie, man lässt sich anstecken. Hier kann man das im Realtime beobachten und gleichzeitig selbst ausprobieren, und die Wissenschaftler denken währenddessen darüber nach, wie man Teil des Systems wird und in diesem agiert. Das ist die Idee.
Das erinnert auch etwas an „Remote Bad Ischl“.
Stimmt, denn eine Computerstimme navigierte da die Menschen durch Bad Ischl. Man bewegte sich gemeinsam, jede und jeder Akteur wurde für die anderen zum Statisten, zum Bühnenbild, zum Teil der Anordnung. Für viele – das wissen wir von unseren Tryouts – ist es reizvoll, das gespiegelte Bild mitzugestalten. Indem man sich eben bewegt oder die Arme hebt. Und wenn das viele tun, auf je eigene Weise, dann entsteht daraus ein Bild.
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Die deutsche Puppentheatersammlung bekommt in Dresden ein eigenes Museum. Auf der einen Ebene werden historische Objekte ausgestellt, in der anderen gestalten Künstler oder Gruppen eine Jahresinszenierung zur Puppe in der Gesellschaft. Wir haben uns entschieden, eine multimediale Arbeit über Deep Fakes mit dem Titel „ALTER EGO Raubkopie“ zu machen: Was geschieht mit unseren abfotografierten Gesichtern im Internet? Tauchen diese in ganz anderem Zusammenhang wieder auf? Ein Teil unserer immersiven Installation ist eine Elon-Musk-Marionette, die von 25 Motoren bewegt wird.
Wann wird das eröffnet?
Am 7. September. Es ist also derzeit etwas dicht. Aber dann gehe ich ein Jahr lang für eine Art Sabbatical nach Rom.
Ihr Aufenthalt in Taipeh hatte „Dies ist keine Botschaft“ zur Folge. Es wird also ein Rom-Projekt geben?
Mal sehen. Irgendwas wird mir schon einfallen.
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