Regisseur Houchang Allahyari: "Integration darf keine Einbahnstraße sein"
Der Regisseur und Psychiater im Gespräch über seinen neuen Film „Goli Jan“, der von zwei jungen Menschen handelt, die aus Afghanistan flüchten.
18.09.21, 05:01
von Gabriele Flossmann
Mit seinem Film „Geboren in Absurdistan“ gelang Houchang Allahyari 1999 ein wunderbar groteskes Lehrstück über Abschiebung, Ignoranz, Menschlichkeit und Elternliebe. Das Thema Flucht war und ist für Allahyari, der im Februar dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feierte, stets integraler Bestandteil seiner Arbeit. So wie auch die Psyche der Menschen und deren Suche nach Zugehörigkeit. In seinem aktuellen Film „Goli Jan“ greift Allahyari das Flüchtlingsthema wieder auf. Diesmal nicht zwischen Österreich und der Türkei, sondern zwischen Afghanistan und dem Iran.
In Afghanistan traut keiner dem anderen, die Taliban scheinen alles zu infiltrieren. Der Spielfilm folgt dem Alltag von Menschen in Kabul – wie etwa einem 17-jährigen Burschen, der sich mit Besorgungen für – vorwiegend ältere – Frauen über Wasser hält. Wenn er einkaufen geht, meidet er belebte Plätze. Als die Taliban versuchen, ihn für ihren Kampf zu rekrutieren, entschließt er sich, in den Iran zu fliehen.
Auf dringliches Bitten eines 16-jährigen Mädchens, das nach der Ermordung ihres Vaters durch die Taliban zwangsverheiratet werden soll, nimmt der junge Bursche sie auf die gefährliche Flucht mit. Geradezu erstaunlich ist es, wie es dem Filmemacher gelingt, diese dramatische Geschichte auch unterhaltsam und mit leisem Humor zu erzählen.
Houchang Allahyari, 1941 in Teheran geboren, kam in den 1960er-Jahren nach Wien um Medizin zu studieren. Seither arbeitet er hier als Neurologe und Psychiater. Durch seine Arbeit in einer Strafanstalt lernte er die therapeutischen Möglichkeiten des Mediums Film kennen und schätzen. Diese Erfahrungen fließen seither in sein künstlerisches Schaffen ein. Wie etwa den Film „I love Vienna", in dem er - mit viel Humor, aber auch Empathie - das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen thematisierte. Auch in „Höhenangst“ steht das Schicksal von Flüchtenden und Migranten im Mittelpunkt.
Den Österreichischen Filmpreis erhielt Houchang Allahyari 2009 gemeinsam mit seinem Sohn Tom Dariusch Allahyari für den Dokumentarfilm „Bock for President", der Ute Bock und ihr Engagement für Flüchtlinge und Asylwerber sowie in den Mittelpunkt stellt. Sein neuer Film, in dem er höchst interessante Einblicke in das Leben in Afghanistan und die Gefühle von Flüchtlingen gibt, ist derzeit in den Kinos zu sehen. Das Metro-Kino zeigt eine Retrospektive aller Filme von Houchang Allahyari.
KURIER:Sie sind im Iran geboren, aber längst ein Österreicher und hierzulande als Psychiater und als Filmemacher erfolgreich. Was hat Sie dazu bewogen, sich filmisch wieder dem Iran anzunähern?
Houchang Allahyari:Ich kam Ende der 1960er Jahre nach Wien, um hier Medizin zu studieren. Danach war ich jahrzehntelang nicht mehr im Iran. Als dann nach meinem Film „I Love Vienna“ (Anm.: 1991) mein iranischer Hauptdarstelle, der Regimekritiker Fereydoun Farokhzad, ermordet wurde, hatte ich schon gar keine Lust mehr. Die Hintergründe seiner Ermordung wurden nie aufgeklärt. Vor etwa vier Jahren meldete sich ein iranischer Journalist bei mir, weil er eine Retrospektive meiner Filme in Teheran organisieren wollte. Er hat mich überredet, nach langer Zeit wieder dorthin zu reisen. In dieser Zeit entstand meine Doku „Rote Rüben in Teheran“, eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Land, aus dem ich ursprünglich komme. Teheran ist zweigeteilt. In Nord-Teheran leben die reichen und sehr westlich orientierten Menschen und im südlichen Teil sind die Armen und Ärmsten zu Hause. Während meiner Dreharbeiten dort habe ich sehr viele Afghanen kennengelernt, die meist als Flüchtlinge illegal in Teheran leben. Ich wurde in viele dieser Familien eingeladen und die Menschen haben mir ihre Lebens- und Fluchtgeschichten erzählt.
Haben Sie diese Geschichten auch in Ihren neuen Film einfließen lassen?
Ja. Der Film basiert auf den abenteuerlichen Erzählungen dieser Menschen. Ich war überwältigt von der Erkenntnis, wie viele Flüchtlingskinder ohne Eltern leben. Sie waren mit Schleppern von Afghanistan nach Teheran geschickt worden, damit sie dort arbeiten und ihren Familien Geld schicken konnten. Ein Bub hat mir erzählt, dass er jeden Tag von 6 bis 9 Uhr früh in eine Flüchtlingsschule geht – und danach arbeitet er bis spät in die Nacht. Schlafen darf er in einem Kaffeehaus, nachdem er das ganze Geschirr gewaschen hat.
Wie konnten Sie sich mit den afghanischen Flüchtlingsfamilien verständigen?
Die Sprachen, die in Afghanistan und im Iran gesprochen werden, sind einander sehr ähnlich. Wir konnten uns daher problemlos unterhalten. Ich wusste vorher gar nicht, dass im Iran so viele afghanische Flüchtlinge leben. Allein in Teheran gibt es mehr als drei Millionen, die alle illegal dort leben. Ich bin diesen Menschen auch emotional sehr nahegekommen.
Sie haben sich schon in Ihrem Film „Geboren in Absurdistan“ mit den Themen Flucht und Asyl auseinandergesetzt. In Ihrem neuen Film „Goli Jan“ tun Sie das wieder. Was hat sich aus Ihrer Sicht in den 20 Jahren, die zwischen den beiden Filmen liegen, verändert?
Für „Willkommen in Absurdistan“ habe ich zum Teil in der Türkei gedreht – mit österreichischen Schauspielern wie Karl Markovics und Julia Stemberger. Für die türkischen Rollen habe ich ein Casting gemacht, was damals problemlos war. Beim neuen Film „Goli Jan“ fingen die Schwierigkeiten schon damit an, dass ich auch die weiblichen Rollen mit afghanischen Schauspielerinnen besetzten wollte. Aber trotz der zwanzig Jahre amerikanischer Vorherrschaft in Afghanistan ist es dort immer noch so, dass eine Frau, die in einem Film spielt, als Hure gilt. Und auf die gleichen Widerstände bin ich auch bei der afghanischen Community in Teheran gestoßen. Es hat lange gedauert, bis ich Frauen gefunden habe, die den Mut hatten, sich gegen ihre Männer durchzusetzen. Eine die es gewagt hat, bei meinem Film mitzumachen, ist Sprecherin von Radio Afghanistan im Iran. Nach den Dreharbeiten hat sie mir erzählt, dass ihr Mann es geduldet, aber dessen Bruder sie mit dem Umbringen bedroht hat. Das Mädchen, das im Film ihre Tochter spielt, ist das auch im wirklichen Leben.
Und wie war es bei den Männerrollen?
Da war es etwas leichter. Es gibt im Film eine Szene, in der zwei Männer den Protagonisten, einen jungen Burschen, zwingen wollen, sich den Talibans anzuschließen. Die beiden haben mir nach den Dreharbeiten erzählt, dass sie tatsächlich Taliban-Mitglieder sind.
Haben Sie da nicht Angst, dass denen der Film manchen Afghanen in die falsche Kehle kommt und sie sich dafür rächen wollen?
Ein bisschen schon, aber vor allem haben meine Kinder Angst um mich.
War es für Sie leicht eine Drehgenehmigung im Iran zu bekommen?
Wir haben den Film ohne offizielle Genehmigung gedreht. In meinem Team waren 90% Afghanen und damit hatten wir zumindest einen Vertrauensvorschuss bei den Asylanten.
Man hat beim Anschauen Ihres Films das Gefühl, dass sich die Machtübernahme der Taliban schon abzeichnet. Hatten Sie da schon eine Vorahnung?
Mit den Vorbereitungen zum Film hatte ich vor drei Jahren begonnen. Damals schon haben die Taliban junge Männer auf den Straßen rekrutiert, um sie für ihren Kampf auszubilden und - wenn nötig – auch für einen Krieg. Auch die Gewalt gegen Frauen zeige ich in meinem Film deutlich. Nun sind die Frauen im Iran leider auch unterdrückt – übrigens auch in Europa – aber nicht in dieser Form. Dass sich die Protagonistin in meinem Film mit Benzin übergießt und sich anzünden will, um der Zwangsehe mit einem alten und womöglich gewalttätigen Mann zu entgehen, das kommt in Afghanistan leider oft vor. Das ist auch dem jungen Mädchen passiert, deren Geschichte wir erzählen. Die deutsche Übersetzung des Wortes „Taliban“ lautet übrigens „Schüler“ oder „Student“. Aber außer dem Umgang mit Waffen und Gewalt haben sie nichts studiert.
Im Iran beträgt der Anteil der weiblichen Studierenden an den Universitäten rund 60 % und man hört daher von politischen Analysten oft, dass die gebildeten Frauen am ehesten eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen könnten. Warum ist das im Nachbarland Afghanistan so anders?
Es gibt im Iran tatsächlich sehr viele starke und gebildete Frauen. Warum das in Afghanistan anders ist? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Denn ich kenne auch sehr gebildete und starke Afghaninnen – auch in Österreich. Aber unter den Frauen, die in den Iran geflohen sind, herrscht eine tiefe Depression. Sie leben zu 90 % illegal dort, bekommen keine Unterstützung und halten sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.
Als Psychiater behandeln Sie auch Menschen, die als traumatisierte Flüchtlinge nach Österreich gekommen sind. Was halten Sie von dem oft gehörten Vorschlag, vorzugsweise Frauen und Kinder aufzunehmen?
Man hört immer wieder, dass die jungen Männer, die aus diesem Teil der Welt kommen, aggressiv und gewalttätig sind und dass man sie deshalb nach Möglichkeit nicht über unsere Grenzen lassen soll. Aus diesem Grund nur Frauen und Kinder ins Land zu lassen ist aber auch keine Lösung. Denn zu den Frauen und Kindern gehören auch Ehemänner und Väter. Da müsste man also viele Familien trennen und damit kommen die Probleme dann mit etwas Verspätung umso stärker auf uns zu. Der einzige Weg – für Frauen wie für Männer – ist die Integration. Man muss den Menschen klar machen, dass das Leben in einer Demokratie nicht nur Freiheit bedeutet, sondern auch die Verpflichtung, die Werte, die Moral und die Gesetze des Gastlandes anzuerkennen. Integration darf aber nie eine Einbahnstraße sein. Auch die Österreicher müssen ihren Beitrag zur Integration leisten – indem sie die Kultur der Asylsuchenden kennenlernen und respektieren. Wenn das nicht passiert, entstehen Parallelkulturen und die können eine Gesellschaft zersetzen. Natürlich ist es gut, wenn man die Hilfe für Frauen verstärkt und auch die Hilfe vor Ort ist eine gute Sache. Aber nur, wenn das Geld auch wirklich bei den Bedürftigen ankommt. Solche Maßnahmen sollten aber nicht zu einem politischen Spiel und zu reinen Lippenbekenntnissen verkommen.
In welchen Bereichen sehen Sie das Verständnis für Menschen, die aus der islamischen Kultur kommen, besonders gefordert?
Viele Männer, die aus einem islamischen Land zu uns kommen, haben noch nie eine Frau im Bikini gesehen. Da muss man sich erst einmal hineindenken, wenn man ihnen vermitteln will, dass die bei uns übliche Sommerbekleidung kein Grund für Übergriffe sein kann und darf. Aber das war schon immer so. Als ich in den 1960er Jahren zum Studium nach Wien kam, hat man mir im Iran gesagt, dass es in Europa wahnsinnig viele schöne Frauen gibt, die ihre weiblichen Reize auf offen zeigen. Das hat in mir damals die Erwartung geweckt, dass schon bei meiner Ankunft im Flughafen die schönen Frauen Spalier stehen – wenn möglich im Bikini (lacht). Umso wichtiger ist es, den richtigen Umgang mit solchen Erwartungen zu lernen. Und natürlich ist auch das Erlernen der Sprache sehr wichtig. Das alles höre ich auch von Flüchtlingen, die als Patienten zu mir kommen. Darunter viele aus Afghanistan.
Wenn man Ihnen zuhört, hat man den Eindruck, dass Ihnen beide Berufe – der als Psychiater und der als Filmemacher – gleichermaßen wichtig sind. Sie haben dieses Jahr Ihren 80er gefeiert. Denken Sie an so etwas wie Pension?
Lassen Sie mich das so beantworten: Als Filmemacher werde ich nie in Pension gehen.
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