Mit stierem Blick ...
In ein eintägiges Spektakel hätte Nitsch sicher mehr (Parallel-)Aktionen integriert. Aber als dritten Tag einer kräftezehrenden Schöpfungswoche ließ er jenen des Dionysos, der sich ins Ekstatische zu steigern hat, eher gemächlich angehen – mit Musik. Dirigent und Künstler Andrea Cusumano, zwischenzeitlich Kulturstadtrat seiner Heimatstadt Palermo, blieb es vorbehalten, die Sonne mit einem Crescendo (bei den Proben aufgenommen) zu begrüßen.
Erst später setzen die verschiedenen Klangkörper, Lärmmacher, Rasselbanden und Glöckner live ein. Ein Scherzo der Streicher, mehrfach wiederholt, zieht sich als Motto durch den Tag. Und wie! Der Schlosshof wurde zu einer gewaltigen Open-Air-Konzertarena. Nie zuvor hat man die Nitsch-Musik, die sich aus einer als Grundton durchlaufenden Quint (Nitsch spricht von einem „Ganztoncluster“) herausentwickelt, derart intensiv und vielschichtig vernehmen können. Lou Reed hätte mit diesen „Walls of Sound“ und aufgeschichteten Klanggebirgen seine pure Freude gehabt.
Cusumano webt Landler- und Mozart-Melodien ein, es gibt vier Partituren, und die vier Orchester, posiert an der Schlossfassade, übertönten sich gegenseitig, steigern sich zu kakophonischen Exzessen. „Das hat was“, sagt einer der Spielteilnehmer. „Das ist schon geil.“
Um 13 Uhr reicht man Reisfleisch in Rotwein, Wurzelfleisch in Weißwein, Weinsuppe und Weinschaumcreme (Zabaione), Nitsch-Wein fließt aus den Dopplern.
Gegen 14.30 Uhr wird es erstmals ernst. Die Akteure, darunter viele Novizen, ziehen den gehäuteten Stier – vielleicht ist es auch ein Ochse, wenngleich kein Pfingstochse – in den Schlosshof und hängen ihn an der Stirnwand auf. Der Seilzug rattert, das Tier stiert ins Leere, die Zunge hängt ihm heraus. Die Plastikschaffeln mit Blut und Innereien stehen bereit: Leo Kopp, Adoptivsohn und Jünger von Nitsch, sowie Einpeitscher Frank Gassner geben Anweisungen für das Aufklaffen, Pfiffe erschallen – und Thibault Delferiere, ein seit zwei Jahrzehnten erprobter, körperlich behinderter Akteur, lässt sich in den Stier bugsieren. Blut spritzt. Ein blonder Jüngling hält seinen Kopf immerzu abgewandt: Es ekelt ihn sichtlich.
In Variationen geht es weiter, eine hartgesottene Athletin lässt sich, ans Kreuz gebunden, mit dem Kopf nach unten an den Stier legen. Sie spreizt die Beine. Blut und Schleim fließt. „Das ist krass“, sagt jemand. Es stinkt bestialisch, der Weihrauch duftet.
Im Garten, gleich neben der geschmückten Gruft von Nitsch, kann man im Schatten das Erlebte verdauen. Nach einem weiteren Erkundungsgang stellt einer der Spielteilnehmer fest: „More of the same.“ Nun eben ein nackter Mann an Schwein. Und wieder fließt Blut.
Eine Musikkapelle aus Tschechien begleitet mit Polkas die Prozession durch die Schlossallee und wieder zurück. Danach eine Trampelaktion mit Trauben und Tomaten im großen Bassin; die Akteure, frisch eingekleidet, formieren sich zum Rugby-Team. Doch diese Darbietung ist eher harmlos im Vergleich zu jenen beim Drei-Tage-Spiel 1984 oder Sechs-Tage-Spiel 1998.
... und hängender Zunge
Um 18.40 wird der Stierkadaver, noch immer recht proper, zusammen mit einem nackten Akteur auf die Stiertrage gewuchtet. Im Abendsonnenlicht beginnt die große Prozession durch die umliegenden Felder. Die Drohnen kreisen, die Windräder drehen sich träge, die Akteure ächzen unter der Last. „Wenn wir die Trage nicht zum Heurigen bringen, gibt es nichts zu essen“, mahnt der Einpeitscher. Er fordert die Spielteilnehmer auf, mitzuschleppen: „Kommen Sie! Es ist eine einfache Aufgabe!“ Das Nitsch-Theater ist ein immersives Spektakel – schon seit den 1960er-Jahren, als es den Begriff noch gar nicht gab.
Um 20 Uhr dann Heurigenbuffet bei der Mühle. Blut spritzt (wenn man die vielen Gelsen erschlägt). Rita Nitsch tanzt, der Wein fließt. Der Tag klingt aus, wie es in der Partitur steht: „Wenn die Sterne am Himmel sichtbar werden, wird der Stier zurück ins Schloss getragen. Die Akteure und Spielteilnehmer tragen brennende Fackeln.“ Es war ein Fest für die Kameras. Und es wird genügend Aktionsrelikte geben.
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