Jesus als Nebenbuhler

Ulrich Seidl: Paradies: Glaube
Ehekrieg zwischen einer radikalen Katholikin und ihrem muslimischen Ehemann in Seidls "Paradies: Glaube".

Ulrich Seidl, wie er leibt und lebt“, urteilte ein deutscher Kritikerkollege, als er nach der Uraufführung von „Paradies: Glaube“ auf den Filmfestspielen von Venedig aus dem Kino trat. Eine Einschätzung, die sich bewahrheitete, als Seidls provokantes Kammerspiel tatsächlich eine kleine Skandalgeschichte schrieb: Italienische Radikal-Katholiken wollten sich zu einer Anzeige wegen Blasphemie aufschwingen – was dann nie geschah.

Tatsächlich bietet der zweite Teil seiner bisher hervorragenden „Paradies“-Trilogie fast so etwas wie ein „Best of Seidl“: Mit aufrührerischen sexuellen Handlungen mit (religiösen) Gegenständen, Swinger-Sex oder unbeirrbaren Religionsfanatikern. Man bewegt sich also in bekanntem Seidl-Land, und das unter besten Bedingungen. Die immer intensive Maria Hofstätter spielt mit der Pedanterie einer neurotischen Zwänglerin eine obsessive Katholikin, die sich nach dem Unfall ihres Ehemannes in die Arme Gottes geworfen hat.

Nun ist Jesus ihr Liebster, und als der an den Rollstuhl gefesselte Ehemann ins Einfamilienhaus zurückkehrt, wird er aus dem Schlafzimmer gewiesen. Seidl spitzt das eheliche Beziehungsdrama zu einem Religionskonflikt zu: der muslimische Ehemann (toll: Nabil Saleh) tobt im Rollstuhl durch das Haus und pflückt mit dem Krückstock Papstbilder von der Wand; seine Ehefrau gießt ihm dafür im Schlaf heimlich das Weihwasser über den Schädel.

Beklemmung

Mit seinen sorgfältig komponierten, treffsicheren Bildern erzeugt Seidl große Beklemmung – etwa wenn er die religiöse Fanatikerin Anna bei der Selbstgeißelung zeigt, auf Knien rutschend oder in Selbstzerfleischungsrituale mit dem Ehemann verbissen. Immer wieder aber schleicht sich auch Komik ins Alltagsgrauen: In einer der großartigsten Szenen fährt der Ehemann mit einer wild fauchenden Katze Rollstuhllift oder fegt wutschnaubend die Kreuze von den Regalen. In diesen Augenblicken bricht anarchische Energie aus dem gespannten Korsett der Erzählung.

Insgesamt fühlt sich „Paradies: Glaube“ geschlossener und weniger frei an als der erste Trilogie-Teil „Paradies: Liebe“, wo eine Sextouristin – Annas Schwester – nach Kenia fährt. „Paradies: Glaube“ ist gestraffter und luftdichter. Aber gerade in seinen qualvollen, oft wortlosen Beobachtungen schafft Ulrich Seidl Momente tiefster Abgründigkeit.

Info: Paradies: Glaube. D/F/Ö 2012. 114 Min. Von Ulrich Seidl; mit Maria Hofstätter, Nabil Saleh.

KURIER-Wertung: **** von *****

„Der Geschmack von Rost und Knochen“ – „das ist der Geschmack, den man hat, wenn man einen Schlag in die Fresse bekommen hat“, sagt Jacques Audiard beim KURIER-Interview in Berlin: „Der Geschmack von Blut.“

Jacques Audiard, französischer Filmemacher und Dandy, trägt senfgelbe Socken zu braunen Wildlederschuhen, ein eng geschnittenes Wams und ein buntes Seidenhalstuch. Meist behält er seine Sonnenbrille auf und raucht dazu bedächtig Pfeife. Audiard reüssierte zuletzt mit seinem Gefängnisthriller „Un Prophète“ – „und danach hatte ich große Lust, eine Geschichte zu verfilmen, wo Liebe eine Rolle spielt und auch Frauen vorkommen.“

Mit „Der Geschmack von Rost und Knochen“ – seinem „Trash-Melo“ – verfilmte er Motive aus Kurzgeschichten von Craig Davidson und verpflanzte sie ins traurige Hinterland von Cannes: „Charles Aznavour hat von der Armut unter der Sonne gesungen“, erzählt Audiard: „Mir war es wichtig, die Geschichte vorm Hintergrund der Wirtschaftskrise zu erzählen: von Menschen, die nicht viel Geld haben, in der Sonne überleben, deswegen aber nicht unbedingt unglücklich sind.“

Amputation

Die Geschichte – das ist ein saftiges, effektvolles Melodram mit starker Verankerung im Sozialrealismus. Die schöne Marion Cotillard arbeitet als Trainerin von Killerwalen und verliert bei einem Unfall beide Beine. Erst durch einen Bodyguard (genial: Matthias Schoenaerts), der sich mit Boxkämpfen über Wasser hält, findet sie ins Leben zurück. Er nimmt an ihren Beinstümpfen keinen Anstoß und beginnt mit ihr eine leidenschaftliche Beziehung.

„Bei einem Film über Liebe habe ich immer ein Problem“, sagt Audiard fröhlich zum Thema Amputation und Erotik: „Man sieht einen Mann und eine Frau, die Sex haben. Aber diese Freude am Sex hat für mich auf der Leinwand nie funktioniert, weil mir immer klar war: Das sind Schauspieler, die Lust nur vortäuschen.“

Durch die amputierten Beine aber konnte er dieses Problem umgehen: „Ich musste mich nicht auf die Gesichter konzentrieren, sondern konnte auf die Beine filmen – und das hat in der Tat eine erotische Dimension.“

Als Vorbilder fasste er Tod Brownings Klassiker „Freaks“ ins Auge: „Der Aspekt der Zirkuswelt – bei der Killerwal-Show oder beim Boxkampf – war mir wichtig: Beides ist arte povera, billige Kunst.“

Info: Der Geschmack von Rost und Knochen: F/B 2012. 120 Min. Von Jacques Audiard. Mit Marion Cotillard.

KURIER-Wertung: **** von *****

Er hat alles, was er braucht – im Auto: einen Wasserkanister im Kofferraum. Einen Rasierspiegel. Frische Wäsche. Fred ist nach Jahren in England in seine irische Heimat zurückgekehrt und durchs soziale Netz gefallen. Er haust auf einem Parkplatz am Meer mit einem jungen Junkie als Nachbarn. Auch dieser hat kein Zuhause und lebt im Auto.

Klingt nach furchtbarer Tristesse, ist es aber nicht: Das Spielfilmdebüt des irischen Regisseurs Darragh Byrne ist nie weinerlich oder pathetisch, sondern voller Herzenswärme. Was vor allem am großartigen Hauptdarsteller Colm Meaney (bekannt als Chief O’Brien aus der Serie „Raumschiff Enterprise“) liegt. Manchmal passen Rolle und Schauspieler einfach perfekt zusammen. Das ist hier der Fall.

Info: Sozialdrama, IRL/FIN 2011. 95 Min. Von Darragh Byrne. Mit Colm Meaney, Colin Morgan.

KURIER-Wertung: **** von *****

Local Heroes

„Keiner versteht Kurt Cobain“, findet Tommy, Sänger einer Rock-Band, und fühlt sich selbst unverstanden. Bei einem Band-Wettbewerb im Wiener Chelsea randaliert er besoffen auf der Bühne und windet sich im Weltschmerz. Der Haneke-Schüler Henning Backhaus erzählt in seinem insgesamt beachtlichen Filmerstling die alte Klische-Geschichte vom „angry young man“ auf Selbstzerstörungstrip. Im Stil schwankend zwischen räudiger Musiker-Bio und österreichischer Realismus-Tradition, verzettelt sich Backhaus zu sehr im No-Future-Gestus seines Helden, dessen Welthass auf die Dauer ermüdend wirkt.

KURIER-Wertung: *** von *****

Schlussmacher

Sunny-Boy Matthias Schweighöfer führte Regie und castete sich selbst in die Hauptrolle einer halblustigen, klamaukigen Roadmovie-Komödie. Als Trennungsspezialist Paul teilt er Menschen mit, dass sich ihr Partner von ihnen trennen wollen.

KURIER-Wertung: *** von *****

Große Erwartungen

Konventionelle, aber unterhaltsame Verfilmung des berühmten Charles-Dickens-Romans, in dem ein Waisenjunge nach langem Suchen sein Glück findet.

KURIER-Wertung: **** von *****

Ritter Rost

Die Geschichte des blechernen Kinderhelden als rasantes 3-D-Abenteuer. Weitere Filmkritiken, Trailer und Hintergründe.

KURIER-Wertung: *** von *****

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