So war die "Orlando"-Uraufführung: Frau dich doch
Demonstrativ stimmt sich das Orchester zwei Mal ein: Zuerst regulär, die ersten Geigen, die anderen Instrumente. Dann aber hebt ein neuer Ton an, einen Viertelton tiefer, und steht da, bis ihn die zweiten Geigen gefunden haben. So, mit dieser Aushebelung der primärsten Orchesterkonvention, beginnt die Uraufführung von Olga Neuwirth an der Wiener Staatsoper. Am Ende steht überraschend wohlwollender Applaus für einen gescheiterten Versuch über die Geschlechterverhältnisse, ein Anrennen gegen Konventionen, die erstaunlich willig zur Seite weichen, ein Werk, das keine Oper sein will und sich in Platitüden verläuft.
Erstmals in ihrer Geschichte zeigt die Wiener Staatsoper das Werk einer Frau (Johanna Doderer hatte eine Kinderopern-Uraufführung). Ja, das ist natürlich absurd. Und meine Güte, es hat sich einiges angestaut, was nun gesagt werden musste. Neuwirth nimmt Schwung - und rechnet in einem großen Bogen mit all dem ab, was Frauen, zuletzt auch Kindern und, auch weiblich, der Demokratie Ungerechtes widerfahren ist. Es ist viel. Und ja, es drang aus dem Haus am Ring in den letzten Wochen ordentliches Vorwehengrummeln: Die Uraufführungsproben regten viele der Beteiligten auf.
Das sind doch gute Voraussetzungen.
Also: Mit Virginia Woolf und ihrem Roman "Orlando" als Starthilfe, schickt Neuwirth ihren Orlando (in der Titelrolle: Kate Lindsey) durch die Jahrhunderte, durch die von stupider Männlichkeit beherrschten Gesellschaften seit dem 17. Jahrhundert, auf einen Musiktheater gewordenen Bildungsroman: Orlando sieht Bigotterie und Brutalität, später Mord und Nationalismus, und je größer das Unrecht, desto stärker der Drang der Künstlerin, zu schreiben.
Ja, richtig, Künstlerin. Denn Orlando ist eine Art Wiedergänger, der immer wieder in unstörbaren Schlaf fällt, Jahre später wieder aufwacht - und einmal dann als Frau. Welch wunderschöner, zarter, schwindelerregender Moment gelingt Neuwirth hier, wenn Orlandos Stimme, kaum ist sie erwacht, ratlos umherirrt - und plötzlich nach oben keine Grenzen gesetzt sind, Lindsey die Stimme aus der Unsicherheit hochfährt und strahlend weiblich dastehen lässt.
Aber damit fängt der Ärger erst an. Denn die Verweiblichung ist eine äußerliche, innen ist Orlando, so wird ausgewiesen, genauso wie vorher. Und aus dieser Reibung zwischen dem, was er als Mann durfte, nicht erkämpfen musste, und den neuen Erniedrigungen - wie Erdbeben donnern die Zuckerwürfel, die Orlando servieren muss - entsteht der emanzipatorische Moment dieses Musiktheaters.
Der spiegelt sich auch in der Musik, Neuwirth eignet sich im Material all das an, was ihren Vorgängerinnen verwehrt blieb: Sie zitiert, verarbeitet, erobert das vor-mozartliche Koloraturengewimmel ebenso wie das Kirchenlied "Danke für diesen guten Morgen" (in einer brutal gelungenen Szene über die patriarchalen Wurzeln von Kindesmissbrauch) oder "O Tannenbaum", mit dem Fortschreiten der Jahre dann Jazz und Punk und Hippiemusik. "Orlando" ist eine weibliche Überschreibung eines männlichen Musik-Kanons, ein Seht her: Wir können das auch.
Bis zur Pause geht das auch gut. Es gelingen kühle, schroffe Bilder, und ebensolche Klänge, die das Gesetzte, das Erwartete aus den Angeln heben. Die Staatsoper wird mit Elektronik bespielt, auf der Bühne stehen Schauspieler und Travestie-Künstler und Kinder und überlebensgroße Videowände: Das ist, der Papierform nach, eine Art Bußestunde für manchen Opernfan.
Die sind aber nicht da. Oder zumindest nicht viele von ihnen. Denn in der Staatsoper ist, man darf sich darüber auch freuen, ein erfrischend anderes Publikum, ein Modepublikum wegen des berühmten Labels Comme des Garcons, das die Kostüme gestaltet hat, ein queeres Publikum wegen der Thematik, ein junges wegen der Uraufführung.
Nach der Pause aber schreibt Neuwirth Orlandos Reise über das Ende des Woolf-Romans (1928) hinaus in die Gegenwart fort. Und der Abend geht zunehmend schief.
Der schwierigste Moment des 20. Jahrhunderts gelingt noch auf eindrücklichste Art: Als Orlando im Jahr 1941 angekommen ist, verstummt die Musik in der Staatsoper, man hört eine Einspielung von Alma Rosé, jener Nichte Gustav Mahlers, die in Auschwitz um ihr Leben spielen musste und doch ermordet wurde. Dazu werden auf das Bühnennetz Namen geworfen.
Dann aber, je näher er also an unsere Zeit herankommt, verliert sich der Orlando in Klischees, die kaum banaler sein könnten. Es wird - wohl zum ersten Mal auf der Staatsopernbühne - zu (wackliger) Hippiemusik gekifft (nicht aufregen, natürlich nicht in echt). So tot wie danach auf der Staatsopernbühne ist die schon sehr tote Punkmusik nichteinmal sonst.
Und wenn dann das Volk auf der Bühne nationalistische Parolen ruft ("mach unser Land wieder großartig", "Wir zuerst"), die Wichtigkeit des Geldes besungen wird und letztendlich Kinder für die Klimarettung schreien dürfen, dann tun sich große Fehlstellen auf: Wen soll das bitte zum Nachdenken anregen, oder auch nur bewegen? Und wenn nicht das, was soll das sonst? Hier bleibt der "Orlando" pure Behauptung, eine Predigt für die Bekehrten, ein gratismutiges Aufzählen all dessen, worüber man sich mit sich einig ist.
Ähnliches gilt für eine lange Szene, bei der - in einer Art von Erbauungssong - die Anerkennung von Geschlechtervielfalt besungen wird, von u.a. der Transgender-Künstlerin Justin Vivian Bond. Es ist schön, ein Ding zu haben, aber auch das andere ist schön, und es sollte jedenfalls nur der Humanismus zählen, heißt es da. Ja, irgendwie eh. Aber um Geschlechter-Barrikaden einzurennen, ist die Oper, wo die Männer mit den hohen Stimmen immer die Helden sind und Frauen oft Hosen anhaben - irgendwie der falsche Ort. Das Ganze mutet an wie ein mutig zitternd angegangenes Outing, bei dem die Eltern nur sagen "klar, wissen wir, nimm dir noch Suppe".
Man hat jedoch den Verdacht, hier wird auf ein konservatives Publikum gehofft, eines, das sich vor der Klimawandeldiktatur fürchtet, lieber als Manderl auf Weiberl steht (und es dabei nicht leicht hat), eines, das vielleicht selber mit nicht ganz astrein demokratischer Politik liebäugelt - und das dann auf Thunberg-Kinder, Kapitalismuskasperliaden und Transgender-Künstlerinnen mit Aufregung reagiert. Muss man da vielleicht ein bisschen Mutbonus draufschlagen, weil Derartiges halt an der Staatsoper anders wirkt als am WG-Küchentisch? Fehlanzeige. All das wurde durchgewinkt.
Wie auch jeder Konventionenbruch, die im Vorfeld aufgeregt diskutierte tiefergelegte Stimmung der zweiten Geigen, die Tatsache, dass hier keine Oper, sondern Musiktheater gezeigt werden soll, aber kein Theater zu sehen war, sondern semilebendige, oft überaus langatmige Stand-Bilder (Regie: Polly Graham), ebenso wurde durchgewinkt, dass viele Stimmen in all dem untergingen.
Am Schluss dann gab es für all das wohlwollenden Applaus, für den Dirigenten Matthias Pintscher, für Lindsey, die eine Geste der Erleichterung machte und der Souffleuse die Hand küsste, für die erstaunlich vielen Mitwirkenden - darunter noch Anna Clementi (Erzählerin), Agneta Eichenholz (Sasha/Chastity), Leigh Melrose (Shelmerdine/Greene) - und, durchmengt mit ein paar Buhrufen, auch für Olga Neuwirth.
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