Bis an die Schmerzgrenze

Das Gesicht von Wachkoma-Patientin Karin Anna Giselbrecht überstrahlt auf der Leinwand die Bühnen-Euridice von Christiane Karg und den fabelhaften Orfeo Bejun Mehtas
Glucks "Orfeo ed Euridice" bei den Wiener Festwochen setzt Maßstäbe.

Verstörend, berührend, hart an der emotionalen Schmerzgrenze und für das Publikum wohl unvergesslich – mit Romeo Castelluccis Interpretation von Christoph Willibald Glucks " Orfeo ed Euridice" im MuseumsQuartier (Halle E) hat Markus Hinterhäuser gleich zum Auftakt seiner Intendanz als Chef der Wiener Festwochen ein gewaltiges Ausrufezeichen gesetzt.

Ja, das Risiko war groß, und es gab im Vorfeld Diskussionen. Der Grund: Castellucci verlegt den Mythos rund um den Sänger Orfeo, der seine verstorbene Gattin Euridice aus dem Schattenreich ins Leben zurückholen will, in die Welt der Medizin. Genauer gesagt in jene der Wachkoma-Patienten. Und so bekommt Castelluccis Euridice einen Namen, ein reales Gesicht, so dringt das reale Leben in die Oper ein.

Wachkoma

Seit 2011 liegt die ehemalige Ballett-Tänzerin Karin Anna Giselbrecht im Wachkoma. Mit Zustimmung der Eltern und Ärzte nimmt Karin Anna Giselbrecht aber hier live am Geschehen teil. Sie liegt in ihrem Bett in der Neurologischen Abteilung des Geriatriezentrums Am Wienerwald, hört über Kopfhörer jeden Ton der Musik. Wenn Orfeo sie besingt, interagiert sie indirekt mit.

Bewusst verschwommene Live-Bilder einer Fahrt durchs nächtliche, verregnete Wien, der Eintritt in die Klinik, ins Zimmer der Patientin – Orfeos Abstieg ins Zwischenreich wird zu einer Reise in die Welt Giselbrechts.

Man sieht Close-ups ihrer feuchten Augen, die Kamera schwenkt übers Haar – Castellucci geht bis an die Grenze des Voyeurismus, er überschreitet sie aber nie. Allein die Bilder bekommt man nicht mehr aus dem Kopf.

Zuvor (wenn Orfeo seine Klagen anstimmt) erfährt man Details über das Leben Giselbrechts; zum stückbedingten "Happy End" erscheint eine arkadische Märchenlandschaft. Musik als Botschaft der Hoffnung im realen Tal der Schmerzen – ein schöner Gedanke.

Und auch musikalisch ist diese Produktion ein Ereignis. Im Zentrum steht Countertenor Bejun Mehta, der als Orfeo eine sensationelle Leistung abliefert. Mehtas wunderschöner, inniger Gesang rührt im wahrsten Sinn des Wortes zu Tränen.

Tadellos ist auch seine Bühnen-Euridice, die Sopranistin Christiane Karg. Als Amor gefällt der Wiener Sängerknabe Laurenz Sartena. Wie fast immer ein Genuss: Die Damen und Herren des Arnold Schoenberg Chores.

Am Pult des ausgezeichneten, rockig-fordernd, aber auch sehr differenziert spielenden B’ Rock – Baroque Orchestra Ghent hat Jérémie Rhorer alles im Griff, ist vor allem Mehta ein musikalisch sicherer Partner.

Am Ende gab es – nach einigen Momenten gespenstischer Stille – frenetischen Jubel für alle Beteiligten. Als Dank für einen Abend, den man nicht vergisst.

Bald auch in Brüssel

Koproduktion Castelluccis „Orfeo“ ist, in der französischen Berlioz-Fassung, ab 17. Juni im La Monnaie in Brüssel zu sehen. Hervé Niquet dirigiert; es singen Stéphanie d’Oustrac und Sabine Devieilhe.

Wien Noch am 13., 16. und 18. Mai.

KURIER-Wertung:

Bis an die Schmerzgrenze
Orfeo
Bis an die Schmerzgrenze
Bis an die Schmerzgrenze
Orfeo

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