Nobelpreis an Peter Handke: Die Begründung im Wortlaut
Peter Handke erhält den Literaturnobelpreis 2019 „für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlicher Genialität die Peripherie und die Spezifität der menschlichen Erfahrung erforscht“, wie es in der offiziellen Begründung heißt. Darüber hinaus hat die Akademie „Biobibliografische Notizen“ veröffentlicht - im Folgenden in einer APA-Übersetzung aus dem Englischen:
Mats Malm, Sprecher der Schwedischen Akademie, verkündet den Literaturnobelpreisträger 2019
Peter Handke wurde 1942 in einem Dorf namens Griffen geboren, das in der Region Kärnten im südlichen Österreich liegt. Es war auch der Geburtsort seiner Mutter Maria, die zur slowenischen Minderheit gehörte. Sein Vater war ein deutscher Soldat, den er nicht kennenlernen würde, bevor er selbst erwachsen war. Stattdessen wuchsen er und seine Geschwister mit der Mutter und ihrem neuen Ehemann, Bruno Handke auf. Nach einer Zeit im schwer kriegsgeschädigten Berlin kehrte die Familie nach Griffen zurück. Nach dem Abschluss der Dorfschule wurde er in einem christlichen Gymnasium in der Stadt Klagenfurt aufgenommen. Ab 1961 studierte er Jus an der Universität Graz, brach seine Studien aber einige Jahre später ab, als sein Debütroman „Die Hornissen“ (1966) erschien. Es ist experimentelle „Doppelfiktion“ in der der Protagonist die Fragmente eines anderen, dem Leser unbekannten, Romans erinnert. Gemeinsam mit dem Theaterstück „Publikumsbeschimpfung“ (1969) - das im selben Jahr uraufgeführt wurde und dessen wichtigstes Konzept es ist, dass die Schauspieler die Besucher dafür beschimpfen, dass sie da sind - hat er der Literaturszene jedenfalls seinen Stempel aufgedrückt. Dieser Stempel schwächte sich kaum ab, nachdem er der zeitgenössischen deutschen Literatur bei einem Treffen der Gruppe 47 in Princeton, USA, bescheinigte, an „Beschreibungsimpotenz“ zu leiden. Er stellte sicher, dass er sich von den Anforderungen an gemeinschaftsorientierte und politisierte Positionen fernhielt und fand seine eigene literarische Inspiration stattdessen in der Nouveau Roman-Bewegung der französischen Literatur.
Mehr als fünfzig Jahre später, nachdem er eine große Zahl von Werken in verschiedenen Genres produziert hat, hat er sich als einer der einflussreichsten Schriftsteller in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Seine Bibliographie enthält Romane, Essays, Notizen, Theaterstücke und Drehbücher. Seit 1990 lebt er in Chaville, südwestlich von Paris, und hat von hier aus viele produktive Reisen unternommen. Seine Werke sind erfüllt von einer starken Sehnsucht nach Entdeckungen, und diese Entdeckungen erweckt er zum Leben, indem er neue literarische Ausdrucksweisen für sie findet. Wie er sagte: „Wahrzunehmen ist alles.“ Mit diesem Ziel gelingt es ihm, auch die kleinsten Details in Alltagserfahrungen mit explosiver Signifikanz aufzuladen. Sein Werk ist charakterisiert von einem starken abenteuerlichen Geist, aber auch von einer nostalgischen Neigung, zunächst sichtbar Anfang der 1980er Jahre im Drama „Über die Dörfer“(1981) und besonders im Roman „Die Wiederholung“ (1988), wo der Protagonist Georg Kobal zu Handkes slowenischen Ursprüngen auf der mütterlichen Seite zurückkehrt.
Motivation für diese Rückkehr zu den Ursprüngen ist das Bedürfnis, die Toten in Erinnerung zu rufen. Aber unter dem Begriff „Wiederholung“ sollte man nicht die strenge Repetition verstehen. Im Roman „Die Wiederholung“ wird die Erinnerung im Akt des Schreibens transformiert. Ähnlich im Traumstück „Immer noch Sturm“ (2010), das ebenfalls in Slowenien spielt, wird der idealisierte Bruder von Handkes Mutter, Gregor, der im Krieg getötet wurde, als Partisan wiedererweckt, der sich im Widerstand gegen die Nazi-Beherrschung Österreichs befindet. Bei Handke muss die Vergangenheit ständig neu geschrieben werden, kann aber nicht wie bei Proust in einem puren Akt der Erinnerung erhalten werden.
Anders Olsson, Mitglied der Schwedischen Akademie, über Handke
Darum nimmt Handkes Werk immer in der Katastrophe seinen Anfang, wie er in „Das Gewicht der Welt“ (1977) berichtet, ein Werk, das uns in die gewaltige Produktion täglicher Notizen durch die Jahre einführt. Diese Erfahrung ist eindrücklich dargestellt in dem kurzen und harschen, aber zutiefst liebevollen Buch nach dem Selbstmord seiner Mutter, „Wunschloses Unglück“ (1972). Handke würde möglicherweise Maurice Maeterlinck's Worten zustimmen: „Wir sind nie intimer eins mit uns selbst als nach einer irreparablen Katastrophe. Dann scheinen wir uns wiedergefunden und einen unbekannten und essenziellen Teil eines Seins erhalten zu haben. Eine seltsame Stille tritt auf.“ Diese Momente finden sich in einigen von Handkes Werken und sie sind nicht selten kombiniert mit einer Epiphanie der Präsenz der Welt, etwa in „Die Stunde der wahren Empfindung“ (1975).
Die besondere Kunst Handkes ist die außergewöhnliche Aufmerksamkeit für Landschaften und die materielle Präsenz der Welt, die das Kino und die Malerei zu zwei seiner wichtigsten Inspirationsquellen gemacht hat. Zugleich zeigt sein Schreiben eine unendliche Suche nach existenzieller Bedeutung. Daher ist das Wandern und Migrieren sein ureigener Aktivitätsmodus und der Weg ist der Ort für das, was er seinen „epischen Schritt“ nennt. Wir sehen das in seinem ersten großen Versuch, eine Landschaft zu beschreiben, „Langsame Heimkehr“ (1979), das oft als Wendepunkt in seinem Schreiben betrachtet wird. Der „epische Schritt“ ist allerdings nicht an ein Genre gebunden, sondern ist auch in seinem dramatischen Werk sichtbar, wie erst kürzlich gezeigt in „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstrasse. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten“ (2015).
Oft verweist Handke auf den mittelalterlichen Schriftsteller Wolfram von Eschenbach und auf die Quest Romance als narrative Modelle, wo ein herumirrender einsamer Held auf der Suche nach dem Heiligen Gral auf die Probe gestellt wird. Das ist wundervoll dargestellt in dem jüngsten, großartigen Roman „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ (2017), wo die junge Heldin, Alexia, im Inneren der französischen Provinz Picardie herumirrt, ohne zu wissen, welches seltsame Schicksal sie erwartet. In einem anderen seiner Romane, „Der Chinese des Schmerzes“ (1983) verübt der Protagonist Andreas Loser einen mörderischen, ziemlich ungeplanten Akt, der seine Lebensdauer dramatisch ändert. Die Beschreibung der Umgebung der Stadt Salzburg ist herrlich reich und präzise, während die Handlung selbst rigoros reduziert, fast nichtexistent ist.
Handke hat gesagt, „die Klassiker haben mich gerettet“ und nicht zuletzt das Erbe von Goethe ist überall präsent und bezeugt Handkes Willen, zu den Sinnen und der lebendigen Erfahrung des Menschen zurückzukehren. Man kann dies nicht zuletzt in seinen Notizbüchern beobachten, etwa in dem kürzlichen „Vor der Baumschattenwand nachts: Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015 (2016). Die Wichtigkeit der Klassiker ist auch sichtbar in seinen Übersetzungen aus dem Altgriechischen, Werke von Aischylos, Euripides, Sophokles. Er hat auch eine lange Liste von Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen verfasst, Werke von Emanuel Bove, Rene Char, Marguerite Duras, Julien Green, Patrick Modiano, Francis Ponge und Shakespeare.
Zugleich bleibt Handke intensiv zeitgenössisch und ein Aspekt davon ist seine Beziehung zu Franz Kafka. In derselben Schneise muss Handke gegen sein väterliches Erbe revoltieren, das in seinem Fall pervertiert war durch das Nazi-Regime. Handke hat sich stets für seine mütterliche, slowenische Linie entschieden, ein wichtiger Grund für seinen antinationalistischen Mythos seiner Abstammung vom Balkan. Obwohl er immer wieder Kontroversen ausgelöst hat, kann er nicht als engagierter Schriftsteller im Sinne Sartres betrachtet werden und er gibt uns kein politisches Programm.
Handke hat das Exil als produktiven Lebensweg gewählt, wo die Erfahrung, Schwellen und geografische Grenzen zu überschreiten, wiederkehrend auftritt. Wenn er als Autor eines Ortes betrachtet wird, sind es nicht in erster Linie die Metropolen, sondern die Vororte und die Landschaft, die seine Aufmerksamkeit erregen. Er fängt das Ungesehene ein und macht uns zum Teil davon. Das passiert speziell in einigen seiner mächtigsten Erzählungen, “Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten„ (1994) oder der bereits erwähnten “Obstdiebin„, die beide die Tradition von Baudelaire an umdrehen, die Paris zum mythischen Zentrum der modernen Literatur erkor. Gemeinsam mit der jungen Heldin Alexia sind wir hier zu Fuß unterwegs, weg vom ausgerufenen Zentrum in die französische Region Picardie, und die Namen der kleinen Dörfer sind plötzlich erfüllt von berauschender Schönheit. Handke unterwandert unsere Ideen von einem zentral regierten Staat und lässt uns verstehen, dass das Zentrum überall ist.
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