Er sollte eine sterbende Medienform dokumentieren. Doch erkannte der Fotograf Herbert List eine ungeheure Faszination, als er 1944 das „Praterpanoptikum“ mit seinen Wachsfiguren aufsuchte. „,Unterhaltend und belehrend’ nannte es sich selber. Was damit gemeint war, wusste jeder“, notierte List. „,Für Jugendliche Verboten!’ stand groß – just über der belehrenden Hälfte der Wachsschau. Weshalb sie natürlich überfüllt war – mit Jugend.“
„Präuschers Panoptikum“, das seit 1888 eine fixe Heimstätte im Prater hatte, fiel 1945 einem Brand zum Opfer. List arbeitete danach noch lange an einem Fotobuch, das aber nie erschien – bis es das Wiener Photoinstitut Bonartes mit Lists Nachlassverwaltern vollendete.
Die Veröffentlichung, begleitet von einer Ausstellung (bis 28. 7.), ist eines von drei Projekten, die derzeit Wachsfiguren in den Fokus nehmen – und sie alles andere als verstaubt aussehen lassen. Denn just in der Auseinandersetzung mit den alten Modellen begegnen auch viele Fragen des Digitalzeitalters.
Wo liegt die Grenze zwischen dem menschlichen Körper und der Sphäre der Medien? Ab wann nehmen wir eine Darstellung als lebendig wahr? Wie nehmen abstrakte Analysen Form an? An manchen Stellen wirken die historischen Kabinette wie Modelle für unsere Zeit, in der das Verhältnis von Realem und Künstlichem gerade grundlegend neu definiert wird.
Wissen ist Wachs
Wie man dem Wissen einen Körper gibt, erkannte bereits der Sizilianer Gaetano Giulio Zumbo (1656–1701). Seine anatomischen Wachsmodelle, gefertigt für den Großherzog Leopold II., waren idealisierte Körper, die in Haltung und Pose oft bei Renaissance-Vorbildern Anleihe nahmen. Ihr Inneres aber gab Erkenntnisse wieder, die durch die Zerlegung hunderter Leichen gewonnen worden waren.
Als Leopolds Bruder, der aufklärerische Monarch Joseph II., die Sammlung 1769 in Florenz sah, wollte er dasselbe für Wien haben: Es war die Grundlage für die ab 1784 angelegte medizinhistorische Wachsfigurensammlung im Josephinum, die seit Herbst 2022 in generalüberholten Räumen zu sehen ist.
Sowohl das Josephinum als auch die florentinische Sammlung „La Specola“ konfrontieren ihre Bestände nun mit zeitgenössischer Kunst: In Wien sind etwa 13 Werke des in Wien lebenden Künstlers Alexandre Diop neben den Figuren zu sehen (bis 7. 10.).
Diops Methode, Körper oder Gesichter aus Leder- und Gummibändern oder Stoffresten zusammenzunageln, ergibt dabei verblüffende Parallelen zu den Figuren, unter deren Oberfläche das anatomische Detail hervorquillt.
Die Ästhetik ist dabei nicht ohne Vorgänger: Auch US-Malerstar Jean-Michel Basquiat war nachweislich durch einen Anatomieatlas geprägt, den er als Kind bekommen hatte. In Basquiats Kunst sind Körper ein Ineinander und Übereinander von anatomischen Details, aber auch von Symbolen, kommerziellen Logos und Begriffen: Medien schreiben sich unweigerlich in Körper ein, man braucht nicht einmal eine Tätowierung dazu.
Kaum jemand formulierte dieses Ineinander drastischer als David Cronenberg: Sein Film „Videodrome“ von 1983 gebar ein eigenes Nischen-Genre, das „New Flesh Cinema“. Es ist also nur folgerichtig, dass Cronenberg heute, 40 Jahre später, die Wachsfigurensammlung von La Specola neu inszeniert. Bis 17. Juli gastiert diese in der Fondazione Prada in Mailand.
Cronenberg inszenierte die aufgeschnittenen Frauenfiguren am Meer schwimmend und kehrte hervor, dass ihre Mimik und Körperhaltung weniger von Tod und Schmerz als von erotischer Verzückung erzählt: „Was, wenn die Zerteilung selbst diese Ekstase, diese fast religiöse Verzückung ausgelöst hätte?“ mutmaßt er.
Es ist eine Idee, die auch Herbert List notierte: „Wie edel zeichnet sich in ihren Zügen der schmerzhafte Verzicht auf das Leben ab“, schrieb er angesichts einer Figur im Prater, deren Körper noch stärker erotisch stilisiert war als bei deren Vorbild im Josephinum. Ab dem späten 19. Jahrhundert konnten Schausteller solche Figuren relativ einfach bestellen. Die Fotografie trug zu jener Zeit das ihre bei, die Grenzen zu verwischen: Nicht nur Figuren, auch tatsächlich Verstorbene wurden vor der Kamera noch „lebendig“ inszeniert.
Das Versprechen, Unbelebtes durch neuartige Medien zum Leben zu erwecken zu können, ist also nicht neu. Madame Tussauds und die „Körperwelten“-Schauen bedienen dabei ebenso den Mix aus Erkenntnisinteresse und Schaulust wie viele der Avatare, Roboter und KI-Bilder, die uns die digitale Gegenwart beschert. Wichtiger als die Frage, ob der Übertritt ins Leben gelingt, ist wohl erhöhte Klarheit darüber, was davon tatsächlich unsere Weltsicht erweitert – und was nur wohliges Schaudern produziert.
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