Körperwelten: "Wir haben genug Leichen im Keller"
Jenseits von Oder und Lausitzer Neiße liegt das Nirvana – flaches Land; Wiesen; Föhrenwälder; ein paar Dörfer; Wirtshäuser, die Speisegaststätten heißen; Menschen, die der Arbeitslosigkeit trotzen und Straßenschilder, die zweisprachig sind. Gut zwei Stunden südöstlich von Berlin weist ein grünes Schild erstmals den Weg zum Plastinarium.
Einst war die Gegend eine Textilhochburg. Seit der Wende 1989 aber standen die Hallen der Hutfabrik Guben – eine der bedeutendsten in der Kaiserzeit – leer. Bäume wuchsen aus den Dächern. Die Arbeitslosigkeit lag bei mehr als 20 Prozent. 2006 legte Gunther von Hagens einen Euro auf den Tisch, zog mit seinen Kühltruhen, Anatomie-Tischen, Stahltanks mit Formalin, Messern und Skalpellen ein. Und begann, Guben – halb deutsch, halb polnisch – mit Hilfe von Leichen neues Leben einzuhauchen.
Genie versus Wahnsinn
Der damals bereits durch seine Körperwelten-Ausstellungen berühmte und höchst umstrittene Anatom hatte einen Plan: Hier wollte er die Plastination vervollkommnen und medizinische Präparate für Universitäten und seine Schau im großen Stil herstellen. Seine Fans nannten ihn Genie, seine Kritiker einen Wahnsinnigen.
Heute stellen mehr als 80 Mitarbeiter auf über 3.000 Quadratmetern Plastinate am Fließband her, erzählt von Hagens Sohn Rurik, der die Firma mittlerweile leitet. Alle wurden angelernt: So ließ sich ein Hutmacher zum Präparator umschulen, ein Modellbauer und ein Physiotherapeut ebenfalls. Wichtigste Voraussetzungen „Geduld und geschickte Hände“.
Ein Mitarbeiter ist ausschließlich damit beschäftigt, die 58 Kühltruhen in Schuss zu halten.
Eva steckt bis zum Hals in Plastik, eine Schutzbrille auf der Nase, ein Skalpell in der Hand. Seit zwei Jahren fährt die ehemalige Biologielehrerin täglich sieben Minuten von Polen nach Guben. Liebevoll deckt sie den Körper, der irgendwann ein atmender Mensch gewesen ist, ab, nimmt den Brausekopf und besprüht das Gewebe. „Alles muss feucht bleiben“, erklärt sie. Hier riecht es nicht nach Tod, sondern nach Chemie. Seltsam steril, entpersonalisiert und nur ein klein wenig gruselig ist die Atmosphäre.
Formalin ist das perfekte Konservierungsmittel, erfährt man beim Rundgang. Und: Nur das Entwässern und das Entfetten sind nicht öffentlich. Rurik von Hagens: „Nicht, weil wir was zu verbergen hätten. Bei uns ist alles offen und transparent.“ Die Arbeit mit Aceton sei einfach explosiv und damit nicht ungefährlich. Längst wurde die Zellflüssigkeit entfernt und durch Kunststoff ersetzt. „Damit es keinen Raum mehr für bakterielles Wachstum gibt“, sagt er.
Notenständer mit Fotos und Anweisungen für die Präparierung stehen neben Evas Obduktionstisch. Wenn alles fertig ist, wird ihre Arbeit als „Standard Ganzkörperpräparat HPO101“ auf Seite 24/25 des Von-Hagenschen-Bestellkatalogs für Universitäten zu finden sein. 15.000 Arbeitsstunden stecken in einem Ganzkörperplastinat. Kostenpunkt: 70.000 Euro.
Plastinarium Guben
Der Markt ist da und noch lange nicht gesättigt, Sohn Rurik nennt sich selbst Kaufmann und zeigt auf eine große Tafel, die die aktuellen Auslieferungen auflistet: „Mexiko, New York, Kalifornien, Texas, die Malediven, Saudi Arabien, Ägypten, Kasachstan, Linz. 90 Prozent der Plastinate gehen an Universitäten“. Beine, Arme, Torsi hängen auf Metallgerüsten, Hirne und Herzen liegen auf Tischen – 40 Prozent Mensch, 60 Prozent Plastik.
Wer täglich mit dem Tod zu tun hat, entwickelt einen makabren Humor. An der Wand hängt ein Cartoon. Text: „Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren“.
Eigentlich heißt er ja Liebchen, Gunther Gerhard Liebchen. Das ist der Geburtsname Gunther von Hagens’, der 1945 in Alt-Skalden im polnischen Posen das Licht der Welt erblickte. Der Sohn eines Arbeiters und einer Krankenschwester studierte Medizin. 1977 entwickelte er die Plastination (mithilfe spezieller Kunststoffe können Körper dauerhaft haltbar gemacht werden) und ließ seine Erfindung patentieren.
Bereits in den 1980er-Jahren stellte der Anatom – sein Hut ist eine Hommage an den holländischen Berufskollegen Nicolaes Tulp aus dem 17. Jahrhundert – Präparate für die Uni Heidelberg her. 1983 wurde von Hagens von der katholischen Kirche gebeten, das Fersenbein der heiligen Hildegard von Bingen zu plastinieren. 1995 folgte die erste Körperwelten-Schau in Japan. Bis heute haben mehr als 48 Millionen Menschen in mehr als 90 Städten in 22 Ländern seine Ausstellungen besucht. Damit sind die Körperwelten die erfolgreichste Sonderausstellung weltweit.
2006 eröffnete von Hagens in einer Hutfabrik in Guben eine 30.000 große Plastinationsfabrik. Im selben Jahr hatte eines seiner Werke einen Gastauftritt im Bond-Streifen „Casino-Royale“.
Seinen Namen hat von Hagens übrigens von seiner ersten Ehefrau. Ehefrau Nr. 2 ist die Ärztin Angelina Whalley, die auch Kuratorin aller Körperwelten-Ausstellungen ist.
2010 hat sich Gunther von Hagens krankheitsbedingt zurückgezogen. Seit damals ist Sohn Rurik Geschäftsführer.
Apropos Heidelberg
In den 1970ern hat von Hagens an der Uni Heidelberg als Anatom gearbeitet – und war unzufrieden mit der Qualität der Plastinate, die als Lehrbehelf dienten. „Papa dachte groß, schon damals“, erinnert sich Sohn Rurik. Und mietete zehn Garagen – für jeden Schritt der Plastination eine. Für Rurik war es „das Größte, wenn Papa ihn im VW-Bus von einer zur anderen chauffierte“.
Damals waren die Präparate ausschließlich für die medizinische Fachwelt bestimmt. Doch von Hagens fand, dass auch Laien wissen sollten, wie ihr Innenleben ausschaut. 1995 erfand er die Körperwelten-Ausstellung, verließ die Universität und tourte fortan durch die Welt. In einem Interview mit dem KURIER bezeichnete sich von Hagens einmal als „Demokratisierer der Anatomie, der jedem Zugang zum menschlichen Körper ermöglichen will“.
Heute sagt Rurik von Hagens: „Der große Kulturkampf um die Ausstellung ist vorbei.“ Aber natürlich gebe es noch immer Kritik: „Ist das wirklich was für Laien? Und müssen diese Posen sein?“, zitiert er. Und weiter: „Wir tragen die Kritik hier stolz vor uns her“. Die Wände des Plastinariums werden von den knackigsten Schlagzeilen geziert („Leichen pflastern seinen Weg“, „Körperwelten sind Angriff auf die menschliche Würde“). Und vom Cover des deutschen Spiegel-Magazins, in dem man Gunther von Hagens den Namen Dr. Tod verpasste.
Den verwendet er jetzt als Künstlername.
Mit etwas Glück sieht man von Hagens – wie immer mit Hut und Lederweste – durch die fenster- und endlosen Gänge des Backsteingebäudes aus 1890 huschen. Er hat sich in sein Daniel-Düsentrieb-Labor (© Rurik) im zweiten Stock der Textilfabrik zurückgezogen. Dort tüftelt er – trotz Morbus Parkinson, jener Krankheit, die ihm Stimme und Beweglichkeit geraubt hat – an neuen Kunststoffen, die seine Präparate besser haltbar machen sollen.
Im Hof schwimmt seit Jahren ein toter Hammerhai im Ethanolpool und wartet auf die Plastinierung, genauso wie Krokodile, Hippos und ein Elefant. Für derartige Riesenprojekte wurde eine Halle ausgeräumt und mit einer riesigen Sägeanlage wieder befüllt. Die ist gleichzeitig der größte Kühlraum Europas, berichtet Rurik von Hagens stolz.
Mindestens ein Jahr dauert es, bis ein Ganzkörperplastinat fertig ist. Einige Hundert harren der Plastination. „Wir haben genug Leichen im Keller.“ Rurik weiter: „Etwa drei Körperspender treffen pro Woche ein. Ist erst mal die Verwesung gestoppt, haben wir alle Zeit für die Plastination. Das kann Monate oder Jahre dauern.“ Zum Beweis führt er in eine Lagerhalle auf der anderen Straßenseite: "Männlich, Mai 2017", "Weiblich, Dezember 2016", steht auf den Formalin-Tanks.
Das Plastinarium ist das Mausoleum für unzählige Körperspender, die als Ganzkörperplastiken in der Ausstellung stehen, als Scheibenpräparate herumliegen oder gerade auf Obduktionstischen mit Skalpellen bearbeitet werden.
Alle haben sich freiwillig gemeldet. 199 aus Österreich stehen auf der Liste. Normalsterbliche können sich zwar die Pose wünschen, in der sie plastiniert werden wollen. Eine Garantie, ob man als Hirnpräparat an einer Uni oder als Skulptur auf einem Geisterschiff in der Ausstellung endet, gibt es aber nicht.
Von Hagens selbst hat verfügt, dass er „in Begrüßungspose – rechter Arm zum Handschlag dem betrachtenden Besucher entgegengestreckt – als stehendes Ganzkörperplastinat unter einer Glashaube am Anfang der Dauerausstellung in Guben stehen“ möchte. Auf dem Sockel soll unter anderem stehen: Gunther von Hagens, Erfinder der Plastination, „Ich war, was Du bist (lebendig), Du wirst sein, was ich bin (tot), und Du kannst werden was ich bin (ein Plastinat).“
Dass es weitergeht, steht für Sohn Rurik fest: Die Nachfrage ist groß, das Plastinarium Guben baut gerade aus. Dieser Tage haben die Bauarbeiten begonnen. Und Ruriks Tochter hat in ihrem Poesie-Album unter: Was willst du mal machen? notiert: „Etwas mit den Körperwelten.“
- Ab 4. Oktober gastieren die Körperwelten in der Wiener Stadthalle. „Eine Herzenssache“ zeigt anhand von etwa 200 Ausstellungsstücken (darunter 20 Ganzkörperexponate sowie Teilplastinate, transparente Körperscheiben und einzelne Organe) wie der Motor des Lebens funktioniert. Und durch Dauerbelastung, Funktionsstörungen und Verschleißerscheinungen aussetzt. (4. 10. 2019 bis 9. 2. 2020, www.koerperwelten.at ) Für KURIER-CLUB-Mitglieder gibt es eine Rabattaktion: Einfach auf www.oeticket.com/koerperwelten gehen und die Sonderaktion „Kurier CLUB“ oder „Kurier Premium 20“ auswählen, Rabattcode eingeben und Tickets online kaufen. Den Rabattcode können Sie vorab unter kurierclub.at anfordern.
- Das Plastinarium im deutschen Guben ist öffentlich zugänglich: Jeden Freitag, Samstag und Sonntag hat man geöffnet. Und im Schnitt verirren sich täglich um die 100 Besucher an die polnische Grenze. www.plastinarium.de
Die ehemalige Biologie-Lehrerin Eva bei der Arbeit
Geduld und geschickte Hände sind gefragt
Bürosessel im Körperwelten-Design
Geheimnisse der Plastination: Gas spielt eine Rolle
Zum Schluss kommt die Positionierung
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