Neuer "Jedermann" Maertens: "Kickl macht mir richtig Angst"
Michael Maertens, seit 2002 am Burgtheater, ist nicht nur einer der reflektiertesten, sondern auch einer der unkompliziertesten Schauspieler. Der KURIER fragte um ein Interview mit dem neuen Jedermann an – und erhielt die Antwort: „Ich bin’s, Michi Maertens. Bin im Lande.“ Gemeint war: Er ist, zurück von den Proben bei den Salzburger Festspielen, gerade in Wien. So trafen wir uns im Burgtheater. Und willig posierte der gebürtige Hamburger – obwohl er das gar nicht mag.
KURIER: Auf Ihrem Whatsapp-Profilbild sieht man zwei Kinder, die unter eine Grabplatte schauen. Ist das ein Beitrag zum Jedermann?
Michael Maertens: Eindeutig! Aber es ist auch ein Beitrag dazu, was einem das Leben für schöne und absurde Bilder bieten kann. Ich war mit den Kindern auf dem Zentralfriedhof, um das Grab von Paul, deren Urgroßvater, zu suchen. Wir haben es auch gefunden. Aber vorher hat mein Sohn dieses halb geöffnete Grab entdeckt und gefragt: „Was ist denn da drunter?“ – „Schaut doch mal rein!“ Und dann haben die beiden geguckt. Ein irres Bild, oder? Es hätte von Lars Eidinger sein können.
Eindeutig! Er war Ihr Vorgänger. Sie spielen den Jedermann, weil Ihr Vater sich das gewünscht hat?
Also, er hat mir keinen Druck gemacht. Aber ich weiß, dass er sich da oben im Himmel oder wo auch immer wahnsinnig freut und irrsinnig stolz ist. Mein Bruder ist ebenfalls Schauspieler, wir sind sehr unterschiedlich, aber auch beste Freunde. Mein Vater hat sich immer gewünscht: Ich möchte, dass Du, Kai, einmal in der Burg Jagsthausen den Götz von Berlichingen spielst, und Du, Michael, den Jedermann in Salzburg. Diesen Sommer erfüllen wir ihm beide Wünsche.
Und Ihr Vater hat sich den Jedermann gewünscht, weil er nach dem Weltkrieg auf dem Domplatz Attila Hörbiger gesehen hat?
Denn sein Vater, Willy Maertens, viele Jahre Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, war mit Attila Hörbiger befreundet und hat ihn in Salzburg besucht. Mein Vater, damals noch sehr jung, war sehr beeindruckt von der ganzen Veranstaltung.
Sie haben sich, wie es scheint, intuitiv sehr gut vorbereitet: Sie kennen angeblich alle Jedermänner der letzten 30 Jahre …
Ich bin da irgendwie reingeraten. Meine erste Freundin war Catrin Striebeck, die am Max Reinhardt Seminar in Wien studierte. Damals, Mitte der 1980er-Jahre, hat das Seminar die Tischgesellschaft gespielt. Ich studierte in München, wollte sie besuchen, bin getrampt, kam nachts in Salzburg an, aber habe sie nicht gefunden. Irgendwo hörte ich aus einem Keller rhythmisches Klatschen, bin reingegangen – und da stand Klaus Maria Brandauer vor mir, der damals für uns eine Ikone, ein Weltstar war, gerade für den Oscar nominiert. Er tanzte mit meiner Freundin im Arm auf dem Tisch, drumherum johlten 100 Leute. Das war das Bild, das ich als erbärmlicher, kleiner Schauspielschüler sah. Catrin hat sich zwar nicht in ihn verliebt, sie blieb bei mir, aber: Das werde ich nie vergessen.
Ist doch auch ein grandioses Bild zum Feste feiernden Jedermann!
Hätte ich fotografieren müssen, dann hätte ich jetzt schon zwei gute Fotos! Und dann durfte ich bei den Proben zuschauen. Es war wirklich so, wie man sich das vorstellt: Alle haben in Kostümen gewartet, es war heiß, alle schwitzten, aber Brandauer fehlte, er kam erst mit einem Privatflugzeug an. Auf einmal schrie jemand: „Ich bin da!“ Und dann kam einer im hellblauen Hemd, weißer Hose, sah irrsinnig gut aus, schmiss die Sonnenbrille weg und sagte: „Kommt, wir fangen an!“ Auch das hat mich beeindruckt. Und Marthe Keller war die Buhlschaft. Sie faszinierte mich, weil sie zu der Zeit mit Al Pacino zusammen war. Es ging das Gerücht um, dass er in Salzburg sei. Ich bin manchmal nachts durch die Gassen gestreift in der Hoffnung, Al Pacino zu treffen. Ist mir aber nicht gelungen. Das war jedenfalls mein erster „Jedermann“.
Curd Jürgens haben Sie zuvor nicht als Jedermann gesehen?
Ich habe aber viel von der Inszenierung gehört und gelesen. Denn in der Pubertät war Senta Berger meine erste große Liebe. Etwas Erotischeres und Schöneres konnte ich mir damals nicht vorstellen.
Sie prägte das Bild der Buhlschaft?
Absolut. Wenn ich an die Buhlschaft denke, denke ich an Senta Berger. Zwischendurch flackert Veronica Ferres auf. Und jetzt sehe ich natürlich nur noch Valerie Pachner.
Sie haben jetzt elegant die Kurve in die Gegenwart genommen!
Es liegen zu viele Jedermänner und Buhlschaften dazwischen.
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Aber zumindest Nicholas Ofczarek müssen wir erwähnen, mit dem Sie eng befreundet sind.
Er spielte den Jedermann in der Zeit, als wir anfingen, uns zu befreunden. Wir waren uns davor etwas suspekt gewesen. Sein Jedermann hat mir irrsinnig gut gefallen. Die Inszenierung war noch in den Konventionen, es gab schöne Kostüme und so, aber die Herangehensweise von Herrn Ofczarek, der auch abgespeckt hatte, war sehr klug. Natürlich war er der Erste, dem ich erzählte, dass ich den Jedermann spielen werde. Er sagte: „Ich schwöre dir, die Leute können sagen, was sie wollen, aber das ist eine tolle Rolle! Dieser Weg vom strahlenden Lebemann zum Wo-auch-immer-hin ist eine tolle Reise.“ Das finde ich auch. Ich kann diese Skepsis dem Werk gegenüber nicht nachvollziehen. Das sind nicht nur blöde Knittelverse! Das Stück hat Humor, es hat auch eine große Dramatik, denn es behandelt den Tod. Auch wenn es vielleicht problematisch ist, dass sich der Jedermann in der letzten Sekunde reinwaschen kann. Andererseits kann man ja auch seinen eigenen interpretatorischen Stempel draufdrücken.
Diese Reinwaschung macht er ja nur aus Opportunismus, oder?
Ich habe in der Vergangenheit manchmal so edle, hehre Jedermänner im weißen Büßerhemd gesehen, die ganz ruhig irgendwo hingegangen sind. Das kann ich nicht nachvollziehen. Auch ich entdecke eine gewisse Portion Opportunismus – oder ein panisches Vorgaukeln von irgendwelchen Gefühlen, die er gar nicht empfindet. Er kann sich doch nicht in einer Minute zum Glauben bekehren! Aber genau das steht im Stück: „Ich glaub, ich glaub!“ (Maertens mit dem Brustton der Überzeugung.) Man kann diese Worte aber auch hysterisch hinausschreien: „Ich glaub, ich glaub!“ (Maertens mit betont heller, fast schriller Stimme.) Und dann haben sie beinah eine Komik: „Bevor ich in die Hölle komm’, glaub’ ich ganz schnell an die zehn Gebote!“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hugo von Hofmannsthal das beim Schreiben nicht gemerkt hat. Vielleicht hat er das sogar beabsichtigt. Es ist so ein Augenzwinkern dabei.
Es kommt trotzdem zu einer Läuterung. Oder zur Selbsterkenntnis?
Er sieht auf einmal: Wie, das sind meine guten Werke? Die sind so schwach, so klein? So wenig ist davon vorhanden? Das ist für den Jedermann ein Schock – ich habe eben ein kindliches Gemüt. Und da wird ihm schon ein bisschen was klar. Es gibt bestimmt viele Menschen, die sich, wenn es dem Ende zugeht, denken: Habe ich eigentlich alles gut gemacht? Habe ich genügend aufgepasst auch auf andere? Die Fragen stellt man sich bestimmt.
Stellt man sich diese Fragen nicht unentwegt?
Absolut. Daher nehm’ ich mir immer wieder vor: Meine guten Werke werden unglaublich dick und groß!
Einen üblen Charakter wie den Jedermann zu spielen, der mit dem Schuldknecht mies verfährt, fällt Ihnen trotzdem leicht?
Ich habe schon viele Bösewichter – von Franz Moor bis zu Richard III. – und ganz viele böse Menschen gespielt. Aber das ist unser Job: Wir müssen unsere Figuren auch verteidigen, wir müssen deren Motivation irgendwie erklären und darstellen. Beim Jedermann fällt mir das leicht. Denn ich habe keinen Neid. Es gibt eben Menschen, die reich sind. Sie sind für mich nicht grundsätzlich verachtenswerte Wesen. Nicht jeder, der es zu etwas gebracht hat, ist ein Bösewicht. Und der Jedermann versucht eigentlich sehr vernünftig zu erklären: „So ist nun einmal die Welt, dafür kann ich nichts. Das sind die Gesetze, die haben wir gemacht, die sind auch gut, die haben sich als praktisch erwiesen …“ Er ist davon überzeugt, dass das, was er macht, okay ist. Ich versuche der Figur Zwischentöne, was wir ja glücklicherweise mit Mikroports können, und eine Portion Wahrhaftigkeit zu geben. Aber auch Ulrich Tukur war kein unsympathischer Jedermann.
Ihr Jedermann wird sich jedenfalls stark von jenem, den Lars Eidinger verkörpert hat, unterscheiden?
Optisch auf jeden Fall. Ich fand ihn einen spektakulären Jedermann in einer ungewöhnlichen Inszenierung. Die Interpretation hatte durchaus ihre Berechtigung und war, glaube ich, sehr beliebt.
Mich erstaunt, dass man nach Lars Eidinger, der auch mit Geschlechtszuschreibungen gespielt hat, wieder zum klassischen Hetero-Modell zurückkehrt: Der reiche Jedermann und die junge Frau. Valerie Pachner könnte Ihre Tochter sein.
Ich weiß nicht, ob der Altersunterschied richtig ist. Wahrscheinlich ist er nicht richtig, aber ich weiß, dass es solche Beziehungen gibt. Ich weiß auch, dass es das umgekehrt gibt, siehe Heidi Klum und Tom Kaulitz oder Emmanuel und Brigitte Macron. Und ich bin glücklich, dass auch Hofmannsthal den Unterschied thematisiert. Denn er lässt den Jedermann sagen: „Bin ich dir nicht zu alt oder zu unbequem, weil ich schon so alt bin?“ Und dann sagt die Buhlschaft: „Nein, grüne Jungs interessieren mich überhaupt nicht. Was mich interessiert, ist die Erfahrung.“ Das steht drin!
Neu ist, dass die Darstellerin der Buhlschaft auch den Tod spielt. Das männermordende Weib?
Der Eros ist auch der Tod: Das mag im ersten Moment ein bisschen, ja, ein bisschen platt erscheinen, aber es verändert etwas für uns im Spiel. Denn diese Liebe, diese vermeintlich schöne Zeit, ist belastet. Das fängt eigentlich schon in dem Moment an, wo die Buhlschaft auftaucht: Dass er irgendwas spürt und in eine Art Depression rutscht.
Und wie geht es Ihrer Schwester Miriam? Kann sie ihre schwere Lungenkrankheit, über die sie ein Buch geschrieben hat, in Schach halten?
Auch deswegen hat der „Jedermann“ für mich eine große Bedeutung. Denn meine Schwester hat, wie das Buch auch heißt, „dem Tod ein Schnippchen“ geschlagen. Sie ist wirklich in den Dialog mit dem Tod gegangen: „Halt, stopp, warte, gib mir noch ein bisschen Zeit!“ Und dann hat sie die Lungentransplantation gemacht. Der Jedermann schafft nur, eine halbe Stunde rauszuschinden, aber sie hat mit dem Tod jetzt schon einen Deal über elf Jahre. Ich weiß nicht, wie lange sie mit ihm ausverhandelt hat. Aber sie ist gut drauf, sie gastiert und spielt. Sie ist am besten drauf von uns Dreien. Weil man, wenn einem der Tod noch ein bisschen Zeit gönnt, dieses carpe diem viel bewusster lebt, weil man wirklich weiß, dass jede Minute, jedes Aufwachen wertvoll ist.
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Karriere als Filmschauspielerin
Valerie Pachner, 1987 in Wels geboren, studierte am Max Reinhardt Seminar und ging 2017 ans Residenztheater. Bekannt wurde sie durch Filme: Für die Rolle der Wally Neuzil in Dieter Berners „Egon Schiele: Tod und Mädchen“ erhielt sie den Österr. Filmpreis und die ROMY, für ihre Rolle in Marie Kreutzers „Der Boden unter den Füßen“ den Deutschen Schauspielpreis
Jedermanns junge Buhlschaft
Die Zusammenführung von Buhlschaft (mit 30 Sätzen) und Tod war für Valerie Pachner ausschlaggebend, das Engagement bei den Salzburger Festspielen zu übernehmen
Das ist jetzt ein harter Bruch: Tangiert Sie die österreichische Innenpolitik? Oder sagen Sie sich: Die geht mich als Deutscher nichts an?
Ich lebe ja hier, und vor allem werden meine Kinder hier groß. Natürlich beschäftigt mich die politische Situation. Damit ich länger hierbleibe, habe ich ein Hobby gefunden, das ist Tennis, und mein Club heißt „Schwarz-Blau“. Das ist ein historisch wichtiger Verein mit einer guten Gesinnung, ich habe dort fantastische Menschen kennengelernt. Aber ich kriege jedes Mal, wenn ich hinfahre und diese schwarz-blaue Fahne sehe, einen Schreck. Ja, ich finde es doch irgendwie verheerend, traurig und nicht richtig, dass die Schwarzen eine Koalition mit den Blauen eingegangen sind.
Es hätte in NÖ wie in Salzburg eine andere Lösung geben müssen?
Ja, auch wenn damit 25 Prozent der Wähler unrecht getan wird. Wir müssen sie mit einer vernünftigen Politik überzeugen, wieder eine andere Partei zu wählen. Denn so ein Mann wie Kickl macht mir richtig Angst. Wenn ich ihn sehe, kriege ich eine Art körperlichen Schauer. Ich mache mir Sorgen um meine Freunde mit Migrationshintergrund, ich finde gefährlich, was die Politiker dieser Partei sagen, welches Vokabular sie verwenden, darunter das Wort „Volkskanzler“. Und dieses Schimpfen auf die Elite! Da denke ich immer gleich an den Nationalsozialismus. Meine Urgroßeltern waren Ärzte, sie gehörten zur Elite von Berlin. Sie haben sich umgebracht, bevor sie deportiert wurden. Ich finde es wirklich furchtbar, wenn mit solchen Begriffen gearbeitet wird.
Und trotzdem spielen Sie auf dem Domplatz den Jedermann …
Aber das heißt ja nicht, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben darf. Das muss man, finde ich, trennen. Mich hat es nie interessiert, im Theater Tagespolitik zu kommentieren, das ist für mich eher ein philosophischer Raum, wo man zum Denken angeregt wird. Deswegen haben wir vollkommen die Berechtigung, diese Festspiele in Salzburg auch jetzt stattfinden zu lassen. Ich kann sofort unterschreiben, wozu Cornelius Obonya, einer der wenigen intelligenten und integren Schauspieler, aufgerufen hat (bei der Eröffnungsrede des Landeshauptmanns aus Protest den Saal zu verlassen, Anm.), aber ich glaube auch, dass Intendant Markus Hinterhäuser recht hat: Wir müssen das Publikum durch unsere Kunst und durch unser Programm zum Denken anregen. Und wir dürfen uns nicht reinquatschen lassen! Dass sich dieser große Pianist und auch kluge Mann von denen reinquatschen lässt: Das kann ich mir nicht vorstellen.
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