Neandertaler, der letzte Normalo

Das Kinderbuch „Wie der Neandertaler den Kebab erfand“ hält Meir Shalev für sein bestes Buch überhaupt: „Ich denke, dass es einfach eine gute Story ist“
Warum der israelische Autor nicht daran glaubt, dass sich Gott für ihn interessiert.

Meir Shalev gehört zu den bekanntesten israelischen Autoren und politischen Kommentatoren. Mit dem KURIER sprach er über sein neues Buch "Zwei Bärinnen", das er im Rahmen der Buch Wien im jüdischen Museum vorstellte.

KURIER: "Zwei Bärinnen", das sind die Erzählerin Ruta und deren Großmutter Ruth. In der Bibel gibt es eine Stelle, wo zwei Bärinnen 42 Kinder zerreißen.

Meir Shalev: Es ist kompliziert: In der hebräischen Übersetzung ist die Rede von Bären, aber das Attribut davor ist weiblich. Ein Fehler in hebräischer Grammatik, ausgerechnet in der Bibel. Ich finde das hochinteressant. Vielleicht ist es aber auch kein Fehler, möglicherweise wollte ein anonymer Schreiber gegen Diskriminierung von Frauen protestieren.

Erstaunlich, dass Sie als Atheist Bibel-Referenzen machen.

Atheist ist ein zu großes Wort. Ich bin einfach nicht religiös. Ich beschäftige mich nicht mit der zwecklosen Frage, ob es Gott gibt oder nicht. Ob einer von uns existiert, ist irrelevant für mich und auch für ihn. Aber in unserer langen Geschichte des Glaubens wurde viel Kultur vermittelt, und es gibt viele Geschichten über Spiritualität und Moral, die mich interessieren. Die Bibel ist ein literarisches Gerüst für mich. Mein Roman ist eine moderne Geschichte über das Israel von heute. Zum Teil wahr, zum Teil erfunden. Ich mache weder politische Referenzen, noch will ich, dass Rabbis mein Buch benutzen.

Es gibt Stellen im Buch, die sich eindeutig politisch interpretieren lassen: "Dieses Gewehr begleitet unsere Geschichte."

Sicher können Sie das so interpretieren, wenn sie möchten. Als politische Fabel, in der das Gewehr die Geschichte des Nahen Ostens begleitet. Sie können aber auch sagen, dass Gewalt ein Symbol der Menschheitsgeschichte ist.

Geht es Ihnen auf die Nerven, dass Sie als israelischer Autor oft politisch Stellung müssen?

Ja. Ich will die selbe Freiheit wie ein amerikanischer, österreichischer oder französischer Autor haben, eine Geschichte über Liebe, Tod oder Familie zu erzählen. Ich bin natürlich eine politische Person, ich schreibe eine wöchentliche Kolumne ...

... und man weiß ja, dass Sie sich seit Langem für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen ...

Ich verstecke meine politischen Ansichten ja nicht. Aber wenn ich über eine Reise zum Mars schreibe, will ich nicht, dass jemand hineininterpretiert, dass die Juden nun den Nahen Osten verlassen. Es gibt da eine lange literarische Tradition. Nehmen Sie die Geschichte von Jakob. Einerseits ist das die Geschichte des Vaters der Nation, die das ursprüngliche Recht der Juden auf ein Gebiet im Nahen Osten bezeugt. Dann die Geschichte von Gott und seinem Anhänger Jakob. Und zuletzt ist es die Geschichte eines Mannes, der Zores in der Familie hat. Die könnte überall auf der Welt passieren. Und die interessiert mich am meisten. Meine eigene Geschichte, etwa, dass meine Mutter früh starb, hat nichts mit den politischen Konflikten zu tun. Darf ich deshalb nicht darüber schreiben?

Es gibt im Buch den Satz: "Ich schreibe, weil man manche Geschichten lieber schreibt als erzählt." Ist das auch Ihr Grund?

Nein. Ich wurde aus persönlichen Gründen Schriftsteller. Ich komme aus einer sehr literarischen Familie. Mein Vater war Dichter (Yitzchak Shalev), meine Cousine ist die Schriftstellerin Zeruya Shalev, meine Schwester ist Literaturredakteurin. Man nennt uns in Israel die Autorenfamilie. Ich wollte nie schreiben. Ich wollte Zoologe werden. Ich will das übrigens noch immer. Ich habe Tonnen von Insekten und Reptilien daheim. Als Journalist, der ich lange war, fühlte mich irgendwann frustriert. Mit 40, dem klassischen Revolutionsalter, habe ich den Sender, für den ich arbeitete, verlassen. Mein Vater hat mich ja immer gefragt: Was willst du eigentlich werden, wenn du groß bist? Er fand das Fernsehbusiness blöd. Für mich war es damals zu spät, ein wirklicher Wissenschaftler zu werden. Da begann ich zu schreiben.

Sie schreiben auch Kinderbücher. Ein Klassiker in vielen Familien ist "Wie der Neandertaler den Kebab erfand".

Ich halte das für mein bestes Buch überhaupt, meine Romane eingeschlossen. Weil ich denke, dass es einfach eine gute Story ist. Ich habe mich immer für das Leben der Neandertaler interessiert, besonders in Israel. Der Neandertaler war der letzte normale Mensch in Palästina. Danach kam der Homo sapiens mit seinem dummen, agressiven, religiösen Fanatismus. Der Neandertaler hingegen war ein vernünftiger Typ, der mit dem gelobten Land nichts am Hut hatte.

Was ist denn mit dir los, Gott? Es ist heute nicht mehr die biblische Zeit, in der Bären aus dem Wald stürzen und die Kinder zerreißen.

... und doch hatte er nichts dagegen, dass ein kleiner Bub von einer Schlange getötet wurde.

Sein Vater hatte mit ihm ein Stück Wüste erkundet. Männertour. Kochen im Wadi. Vögel beobachten. Pflanzen bestimmen.

Da hat er die giftige Sandrasselotter übersehen.

Was ist denn mit dir los, Gott?, fragt viele Jahre später noch immer die Mutter des toten Sechsjährigen, die im Gymnasium Bibelkunde unterrichtet.

Wirst du etwa auch große Steine vom Himmel auf mich werfen? Wird sich jetzt die Erde auftun und mich verschlingen?

Schalom

Neandertaler, der letzte Normalo
buch

Meir Shalev, 66, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Israels. Und Friedensaktivist. Er setzt sich für die Rückgabe der besetzten Gebiete ein.

In "Zwei Bärinnen" überrascht er mit Gewalt und vielen Toten.

Im vorangegangenen wunderbaren Roman "Der Junge und die Taube" war alles noch so lieb gewesen.

Man nahm vom Buch auf jeden Fall mit, dass jeder zu seiner Wohnung, zu seinem Haus, seinem Heim "Schalom" sagen sollte oder "Servus", ehe man es betritt.

Das Haus dankt es.

Man wird es wärmer haben. Gut beschützt sein.

Und eine Taube überbrachte 1948, im ersten Israelisch-Arabischen Krieg, Liebesbriefe.

"Zwei Bärinnen" haben keine Friedenstaube zu bieten. Das passt leider besser.

Übersprudelnd erzählt wird von einer Frau, aber es ist eine Männergeschichte, die sich seit Generationen aufgestaut hat: mit Liebes-, Hass- und Rachegelüsten.

Die Familie Tavori in einem Dorf im Norden Israels führt "immer schon" eine Gärtnerei – ohne Orchideen, Großvater Seev hatte etwas gegen die "künstlichste, kitschigste, neureichste, gefallsüchtigste, aufdringlichste" Pflanze.

Schon an dieser Beschreibung sieht man, mit welchen Emotionen hier gelebt wird.

Der Nachbar, der mit der Ehefrau des Gärtners schläft, wird erschossen. Alle im Dorf halten dicht. Das uneheliche Baby wird dem Hungertod ausgeliefert. Das Dorf hält dicht. Und so geht es über Jahrzehnte, Auge um Auge, Zahn um Zahn – was ist denn mit euch los?

Da muss doch auch Gott schrecklich weitermachen!

Dem Buch liegt eine Postkarte des Diogenes Verlags bei, darauf eine Frage, die an dieser Stelle entschieden mit Nein beantwortet wird (weil es herrlich ist) :"Schämen Sie sich eigentlich, wenn Sie bei einer guten Geschichte einschlafen?"

KURIER-Wertung:

Neandertaler, der letzte Normalo
Biblisch: Meir Shalev, 66 lebt in Jerusalem

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