Nachruf auf Otto Schenk: "Ich wurde Schauspieler, weil ich nichts anderes kann"
Mit solch universellem Talent wird selbst das verwöhnte Wiener Publikum nur selten beglückt. Otto Schenk war Schauspieler, weil er nicht anders konnte, als in Rollen zu schlüpfen – egal, ob er auf einer Bühne stand oder nicht. Er war Opernregisseur, weil ihn die Musik zutiefst erschütterte. Und Theaterdirektor aus Leidenschaft.
Dazu noch ein Wienerischer Philosoph, der die Welt spöttisch kommentierte. Niemand versteht, wie so viele Talente in ein Leben hineingepackt werden konnten. Die 94 Jahre, die ihm gegeben waren, sind im Grunde viel zu kurz, um all das zu bewerkstelligen, was Otto Schenk geschaffen hat.
Eigentlich mag er das Theater gar nicht
Bis zum Ausbruch von Corona stand er auf der Bühne, im März 2021 gab er dann bekannt, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen würde. Schauspieler zu sein war für ihn ein suchtartiges Verhalten: „Wie der Raucher eine nach der anderen raucht, so theatere ich ketten“.
Um im selben Augenblick zu erklären, dass er das Theater gar nicht mag: „Nicht einmal den Geruch. Theater stinkt!“ Schenk beherrschte die Meisterschaft, sich selbst zu widersprechen und mit den einander divergierenden Ansichten doppelt recht zu behalten. Auf die Frage „Ihre größte Stärke?“ sagte er: „Das Gedächtnis.“ Und „Ihre größte Schwäche?“: „Das Gedächtnis.“
Alternativlos
Geboren 1930 in Wien als Sohn einer aus Triest stammenden katholischen Mutter und eines jüdischen Wiener Vaters, der trotz „privilegierter Mischehe“ seinen Beruf als Notar nicht ausüben durfte, wuchs Otto Schenk in der Nazizeit als „Halbjude“ auf.
Nach dem Krieg absolvierte er das Reinhardt Seminar – und das, obwohl ihm „das Theater widerlich war. Ich floh schreiend aus dem Burgtheater, in das mich meine Eltern aus erzieherischen Gründen geführt haben“.
Und im selben Atemzug wieder ein Schenk’scher Widerspruch, der auf die berufliche Alternativlosigkeit verwies „Fragen S’ an Fisch, ob er gern im Wasser ist, er hat keine andere Wahl. Mir geht’s genauso, ich wurde Schauspieler, weil ich nichts anderes kann.“
Die Liebe seines Lebens
Am Reinhartseminar lernte er seine spätere Frau Renée Michaelis kennen, die bald in der TV-„Familie Leitner“ auftrat, in der Schenk Regie führte. Später gab sie ihren Beruf auf, um sich ganz der Karriere ihres Mannes zu widmen.
„Ich habe eine Frau“, sagte er, „die mit mir ein Wesen ist, die ich vergöttere und mit der ich mir einen gemeinsamen tödlichen Autounfall wünsche“. Das war nicht der Fall, Renée Schenk starb im April 2022.
"Spiel weiter, Schenk, die Hunde haben bezahlt!"
Otto Schenk spielte zunächst auf Kellerbühnen. Als König der Anekdote wusste er von jeder seiner Lebensstationen Geschichten zu erzählen. Aus dem Kellertheater am Wiener Parkring war es die, wie eine Frau im fast leeren Zuschauerraum mit zwei riesigen Doggen saß, die durch lautes Kläffen den Verlauf der Vorstellung störten.
Schenk wusste nicht, wie er weitermachen sollte, bis ihm ein erfahrener Kollege auf der Bühne zuflüsterte: „Spiel weiter, Schenk, die Hunde haben bezahlt!“
Straßenfeger im TV
Mitte der 1950er-Jahre ans Theater in der Josefstadt geholt, an dem er in Nestroy-, Molnár- und Tschechow-Rollen brillierte, wurde er zeitgleich vom neuen Medium Fernsehen entdeckt, das ihn schnell bekannt und populär machte. Schenks Auftritte als Untermieter und als Würstelmann waren Straßenfeger.
Vieles lief parallel. 1957, gerade 27 Jahre jung, und als Schauspieler voll im Einsatz, debütierte er als Opernregisseur mit der „Zauberflöte“ am Salzburger Landestheater, fünf Jahre später gelang ihm mit Alban Bergs „Lulu“ der Durchbruch an der Wiener Staatsoper. Hier folgten mehr als 30 Inszenierungen sowie 15 an der „Met“ in New York, weitere an der Mailänder Scala, an der Covent Garden in London, in Berlin, München, Hamburg.
Schenk zählte zu den angesehensten und begehrtesten Opernregisseuren der Welt, „und das, obwohl ich keine musikalische Grundausbildung habe“. Seine Stärke war es wohl, wie er meinte, „von Kindheit an geschult zu sein, dass der singende Mensch ein echter Mensch und kein seltsames, unnatürliches Wesen ist“.
In der Ruine der Oper
Er selbst wäre lieber Sänger geworden, entschied sich aber mangels Stimme fürs Sprechtheater. Die Liebe zur Oper ging so weit, dass er als 15-Jähriger mit seinem Freund, dem späteren Bariton und Operndirektor Eberhard Waechter, unter Lebensgefahr in die Ruine der bombenzerstörten Staatsoper kletterte, wo sie inmitten der Trümmer, auf der brüchigen Feuerleiter, ihre „Aida“-Version aufführten.
Generationen von Opernstars und Dirigenten riefen nach Schenk als Regisseur: Karajan, Karl Böhm, Bernstein, Lorin Maazel, Abbado, Gundula Janowitz, Anna Netrebko, Placido Domingo. Da Sänger oft nicht wissen, was sie auf der Bühne mit ihren Händen anfangen sollen, hatte Schenk mit Domingo vereinbart, ihm auf Proben gegebenenfalls das Wort „Hand!“ zuzurufen, worauf der wusste, dass er diese in eine andere Position zu bringen hatte.
Trotz seiner Weltkarriere als Opernregisseur hielt Otto Schenk Österreich die Treue. Er inszenierte an der Josefstadt, bei den Salzburger Festspielen und am Burgtheater. Und spielte populäre Rollen, sodass er schon in jungen Jahren vom Publikum „Volksschauspieler geschimpft wurde“, wie er sagte.
Die Natürlichkeit in Sprache und Bewegung hatte er bei den Großen seiner Zeit gelernt: „Wenn der Leopold Rudolf und die Adrienne Gessner hinter der Bühne miteinander geplaudert haben und dann die Probe anfing, war da kein Unterschied.“
Bestsellerautor
Nicht nur Sänger wäre er lieber geworden als Schauspieler, sondern auch Dirigent und vor allem Schriftsteller: „Ich bin eigentlich ein Schriftsteller, der nie geschrieben hat“, sagte er und sollte sich auch darin widersprechen, als er nämlich ab 2003 ein Dutzend Bücher schrieb, die allesamt Bestseller wurden.
Schon in den Buchtiteln „Nach außen bin ich ja viel jünger“ oder „Ich bleib’ noch ein bissl“ spielte er auf sein Alter an – das ihn in der Ausübung seiner diversen Berufe lange Zeit nur bedingt hinderlich zu sein schien. Zuletzt erschienen seine mit Michael Horowitz verfassten Memoiren „Schenk. Das Buch“.
Nach dem plötzlichen Tod des designierten Direktors Boy Gobert übernahm Schenk 1988 das Theater in der Josefstadt. Direktor sei er geworden, um die Rollen spielen zu können, die er spielen wollte und „um nicht von anderen Direktoren gequält“ zu werden.
„Ob ich wirklich ein Direktor war, bezweifle ich“, sagte Schenk, der jedenfalls für volle Häuser sorgte: In neun Direktionsjahren ist er als sein größtes Zugpferd über 1000 Mal in der Josefstadt und in den Kammerspielen aufgetreten.
"Nicht um die Burg!"
Als Schenk gefragt wurde, ob er auch die Direktion eines anderen Theaters als die der Josefstadt übernommen hätte, antwortete er schlagfertig: „Nein! Nicht um die Burg!“
Der begnadete Komödiant war stets auf der Suche nach Bühnenpartnern. Alfred Böhm war so einer. „Wir haben immer versucht, einander zu übertreffen“, sagte Schenk, „an Blödheit, an Natürlichkeit und all dem, was zur Komödie gehört“. Und Helmuth Lohner, um den er vor neun Jahren mit den Worten trauerte: „Ich konnte keine Inszenierung machen, ohne zu überlegen, was er sagen würde.
Er war für mich in der Nähe der Unsterblichkeit. Das erwies sich dann leider als großer Irrtum.“ Mit Michael Niavarani improvisierte er im Globe Theater vor 1.800 Menschen Doppelconférencen. „Wir setzen uns auf die Bühne, und der Niavarani zieht mir Würmer aus der Nase – von einer Größe, die ich meiner Nase nie zugetraut hätte.“ Fast bis zuletzt erzählte Schenk auf Tournee mit Herbert Fechter aus seinem Leben.
Als Volksschauspieler, mit der ihm eigenen, zuweilen stockenden Sprechweise, stand Schenk in der Tradition Alexander Girardis, Hans Mosers, Paul Hörbigers. Aber er war nicht e i n Genie. Schenk war es als Schauspieler, Kabarettist, Schriftsteller, Opern- und Theaterregisseur. Und nicht zuletzt als grantig-kauziger und doch stets amüsanter Geschichtenerzähler.
Ich war eigentlich immer Theater. Ich war Theater, bevor ich überhaupt wusste, was Theater ist.
Das stundenlange Gerede über die Rolle ist mir ein Graus. Wenn solche Regisseure auf mich losgelassen werden, werde ich so unbegabt wie in meinen ersten Tagen.
Ich bin in Gesellschaft nicht fähig, plötzlich lustig zu sein.
Nichts muss so gut vorbereitet sein wie eine Improvisation.
Schlechte Rollen kann man nicht gut spielen.
Ich war immer gern ein anderer. Ich hab auch Stimmen nachgemacht, fast erforscht. Es war nicht so ein blödsinniges Imitieren, sondern ein Identifizieren.
Eine g’scheite Frau hat zu Haus viel mehr zu reden, als ein Mann. Meine Frau kauft alles, was sie will – und ich kauf auch alles, was sie will.
Schlechtes Theater war immer peinlich. Gutes Theater war immer die Ausnahme.
Wenn man es mit den Bankdefiziten und den Eurofightern gegenrechnet, ist Theater doch sehr billig.
Ich esse gerne Krebsförderndes. Ich habe mich nie um gesundes Essen gekümmert.
Ich fühle mich nirgendwo so gesund wie auf der Bühne.
Mir ist Theater ständig unangenehm.
Ich bin oft erschrocken, wie das Publikum explodiert ist vor Lachen.
Lampenfieber ist mir fremd. Mit dem Alter ist mir der Erfolg noch wurstiger geworden.
Mein Talent gehört nicht mir, sondern denen, die es mögen. So lange es genügend Menschen gibt, die es mögen, hat man die Pflicht, auf die Bühne zu kriechen. Und wenn das Gekrieche peinlich wird, muss man im richtigen Moment wegkriechen.
Ich bin in einem Alter, in dem man nichts mehr vorhat. Da hat nur noch das Leben was vor mit einem.
Man muss in meinem Alter dankbar sein, dass man überhaupt noch mitmachen darf, und zwar nicht nur „unter ferner liefen“.
Ich werde hoffentlich den Moment nicht versäumen, rechtzeitig aufzuhören.
Ans Aufhören denken soll man erst, wenn man sich die Sachen nicht mehr auswendig merken kann.
Theaterlegende? Das klingt schon a bissl wie a Grabinschrift.
Kein Nachfolger
Andere werden Otto Schenks Rollen am Theater spielen, werden Regie führen, werden Geschichten erzählen, Bücher schreiben und aus ihnen lesen – doch einen Nachfolger in dieser Universalität kann es und wird es nicht geben.
Natürlich hat er sich auch über den Tod seine Gedanken gemacht. Seine Asche wollte er vor dem Theater in der Josefstadt ausstreuen lassen, schrieb er in einem seiner Bücher, brachte aber gleich die österreichische Bürokratie ins Spiel: „Wahrscheinlich sind die einschlägigen Behörden dagegen.“
Und die Frage, ob er an ein ewiges Leben glaube, hat er mit dem Satz beantwortet: „Das fehlert mir noch!“
Unvergessen sind seine berührenden und gleichzeitig originellen Trauerreden auf Freunde wie Marcel Prawy und Helmuth Lohner.
Wer aber wird am Grab von Otto Schenk eine Rede auf diesem Niveau halten können?
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