Hermann Nitsch 1938 - 2022: Er sah sich nie als Provokateur
"Schüttbilder" waren sein Markenzeichen. Doch im Vergleich zu den Fluten aus Missgunst, Unverständnis oder auch blankem Hass, die Österreichs Bevölkerung im Laufe der Jahrzehnte über Hermann Nitsch (1938 - 2022) ausschüttete, nimmt sich die Menge an Blut und Farbe, die der Künstler in seiner langen Karriere verarbeitete, eher bescheiden aus.
Hermann Nitsch ist tot: Der gehasste und geliebte Aktionist
Grenzgang
Niemand brachte im Österreich der Nachkriegszeit jene, die die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst genau zu kennen glaubten, mehr auf die Palme als der 1938 in Wien geborene Künstler, der zeitlebens an seinem großen Gesamtkunstwerk, dem "Orgien Mysterien Theater", arbeitete: "Sinne und Sein" waren dabei die Schlüsselwörter, die Kunst sollte zum Kern des Lebens führen, alle Sinne ansprechen und die Exstase – in der Nachfolge antiker Bacchanalien und anderer Rituale – zelebrieren.
Aktionskünstler Hermann Nitsch 83-jährig gestorben
Gegen Ende der 1990er Jahre war Nitsch damit in der Mitte des Kunstbetriebs angekommen, er inszenierte am Burgtheater und in der Wiener Staatsoper, stellte weltweit in großen Häusern aus und wurde unter der Federführung vom früheren niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll (VP) mit einem eigenen Museum in Mistelbach, nahe seines Wohnsitzes im Weinviertler Prinzendorf, geehrt.
Volkstümlich
Spätestens hier zeigte sich auch, dass Nitsch stets auch ein im besten Sinn volkstümlicher Künstler war – jemand, der dem Land und den Menschen in seiner Umgebung stets tief verbunden blieb und viel Respekt für Handwerk, für Wein(bau) und gutes Essen hegte. Als Provokateur sah sich Nitsch – in Begegnungen stets ein herzlicher, gemütlicher Mann – selbst nie. Seinen Gegnern war das egal.
Erste Aktionen als Student
Anfänge Seinen Anfang nahm Hermann Nitschs bewegte Karriere an der Wiener Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt (1953 – 58). Noch als Student, 1957, entwickelte er die Idee des Orgien Mysterien Theaters, die er in der Folge in ersten Aktionen ausprobieren und propagieren sollte.
Eingemauert mit Frohner und Muehl
Am 2. Juni 1962 ließ Nitsch sich gemeinsam mit Adolf Frohner und Otto Muehl für drei Tage in einen Keller einmauern. Die so genannte "Blutorgel"-Aktion, bei der die Künstler vor der offiziellen Ausmauerung ein Lamm zerfleischen und es auf dem zuvor abgetrennten Fell in eine Nische nageln und mit Blut übergießen, war wegweisend für das, was im Wiener Aktionismus noch kommen sollte. Sie markierte auch den Beginn einer Serie von Konflikten mit der Polizei, die Nitsch dazu veranlasste, 1968 nach Deutschland zu übersiedeln.
Allumfassendes Theater
Die Arbeit an seinem Opus Magnum setzte Nitsch dabei unvermindert fort: Neben Schüttbildern, fotografischen Dokumentationen und "Aktionsrelikten" gebar Nitschs große Vision Partituren, Manifeste, Grafiken und Architekturzeichnungen, die eine räumliche Hülle für das allumfassende Theater imaginierten.
1998 als vorläufiger Höhepunkt
Im Weinviertler Schloss Prinzendorf, das Nitsch bereits 1971 gekauft hatte, arbeitete der Künstler konsequent an der Umsetzung seiner Vision: Immer ausführlicher und komplexer wurden die Aktionen, 1998 wurde mit einem 6-Tage-Spiel in Prinzendorf die umfassendste Performance realisiert. Tierschützer errichteten vor den Toren des Schlosses ein Protestlager – ungeachtet der Beteuerungen, dass bei den Spielen keine Tiere geschlachtet und nur fachgerecht getötete Tiere verwendet wurden.
Streng ritualisiert
Doch nicht nur in seinen Gegner, auch in seiner Anhängerschaft konnte Nitsch Feuer entzünden. Die streng ritualisierten Abläufe, die starke sinnliche Komponente und nicht zuletzt Nitschs priesterliches Auftreten gaben dem Projekt des Orgien-Mysterien-Theaters stets auch etwas Kultisches – einen "Erlösungskünstler" nannte ihn der Autor Antonio Fian einmal. Anders als bei seinem Aktionisten-Kollegen Otto Mühl mündete der Kult bei Nitsch aber nie in ein System des Autoritätsmissbrauchs.
Gesamtkunstwerk
Nitsch bewegte sich statt dessen in jenes Terrain, das dem Gesamtkunstwerk immer schon aufgeschlossen war: 1995 inszenierte er die "Hérodiade" an der Wiener Staatsoper, 2011 Oliver Messiaens "Saint François d’Assise" an der Bayrischen Staatsoper in München. Ein geplantes Drei-Tage-Spiel im Centraltheater Leipzig im Sommer 2013 rief wiederum Tierschützer auf den Plan – und wurde wegen eines vom Oberbürgermeister ausgesprochenen Verbots schließlich nur in "modifizierter Form" realisiert. Im Vorjahr wurde er von den Bayreuther Festspielen eingeladen, eine konzertante Version von Richard Wagners "Die Walküre" szenisch zu begleiten. Nitsch hat für jeden der drei Akte eine umfangreiche Malaktion konzipiert.
Erzwungene Auseinandersetzung
Abgestumpft hat Nitschs Kosmos die Öffentlichkeit also nie, selbst wenn es bisweilen danach aussah. Seine Kunst zwang alle, Bewunderer wie Gegner, sich mit ästhetischen Reizen jenseits des Angenehmen auseinander zu setzen.
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