Es ist ein Wiedersehen und ein Wiederhören mit Freunden, die man (zwangsweise) viel zu lange meiden musste. Und ja, die berühmte Träne im Knopfloch – man kann und will sie nicht unterdrücken.
So viel Pathos zu Beginn einer Konzertkritik? Undenkbar in Vor-Corona-Zeiten, in der „neuen Normalität“ aber ist es durchaus angebracht. Denn nach 88 Tagen durfte der Wiener Musikverein wieder seine Pforten öffnen, hatten 100 Menschen das Glück, wieder live Musik zu hören.
Dargeboten vom oft besten Orchester der Welt, also den Wiener Philharmonikern und Daniel Barenboim, der in seiner Doppelfunktion als Pianist und Dirigent in den Goldenen Saal zurückkehrte.
Wie man sich das vorstellen muss? Man betritt das Haus mit Maske. Billeteure, die man als treuer Besucher kennt, lächeln einem unter Gesichtsvisier ebenso zu wie die Damen an den Garderoben. Dann der Weg hinauf in den Goldenen Saal – er hat sich nicht verändert. Nur die Akustik ist mangels größerer Menschenansammlung eine andere. Man wähnt sich in einer Probensituation.
Man sitzt (nach einem Schachbrettmuster) überaus weit voneinander getrennt, aber ist dennoch eine Einheit, die endlich wieder live Musik hören darf, die letztlich in der Musik aufgehen wird. Wir glücklichen 100!
Auf der Bühne nehmen die Wiener Philharmoniker (teils mit Masken) an den Pulten Platz. „Wir sind alle negative Musiker“, sagt Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer im Hinblick auf die negativen Corona-Tests der Orchestermitglieder.
Schicksal
Und dann kommt Daniel Barenboim, setzt sich an das Klavier und spielt (auch dirigierend) Wolfgang Amadeus Mozarts „Konzert für Klavier und Orchester in B-Dur“ (KV 595) – ein lange vermisster Genuss vom ersten Ton an. Doch mit Ludwig van Beethovens fünfter Symphonie, der so genannten „Schicksalssymphonie“ schließt sich ein Kreis. Beethovens Fünfte war das letzte Werk, das die Philharmoniker vor dem berüchtigten Lockdown interpretiert haben. Nun aber ist das Schicksal auf ihrer Seite und jener des Publikums.
Beeindruckend, erhaben, denkwürdig, wie ein Manifest der Kunst erklingt diese fünfte Symphonie. Die Musik lebt wieder; jetzt mag man es glauben. Und auch an dieser Stelle sei bitte ein wenig Pathos erlaubt.
Weniger pathetisch, aber umso bedeutender das Nachspiel des mit stehenden Ovationen (ja, wir haben Stimmung gemacht!) bedachten Konzerts: Musikverein-Intendant Thomas Angyan sowie Staatsoperndirektor Dominique Meyer (beide scheiden Ende Juni aus ihren Ämtern) betreten die Bühne. Sie werden zu Ehrenmitgliedern der Wiener Philharmoniker ernannt. Über die „wunderbare Cohabitation“ zwischen Orchester und Oper gibt sich Meyer begeistert. Und Angyan blickt sichtlich gerührt auf die jahrzehntelange Zusammenarbeit zurück und nach vorne. Denn der Musikverein ist wieder da.
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