Monumente für Leerstellen
Seit 18 Jahren schon steht das "Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah" – so die offizielle Bezeichnung – am Wiener Judenplatz. Da erscheint die Frage, warum erst jetzt eine umfassende Werkschau der Künstlerin Rachel Whiteread (*1963) in der Hauptstadt zu sehen ist, berechtigt. Doch Whiteread war beschäftigt: Das Wiener Mahnmal, ihre erste monumentale Auftragsarbeit im Außenraum, zog weitere Aufträge nach sich, etwa für die Turbinenhalle der "Tate Modern". 2003 starb die Mutter der Künstlerin, wenig später kam ihr erster Sohn zur Welt, 2007 der zweite.
Erwähnenswert ist das deshalb, weil all diese Punkte im privaten und professionellen Leben der Künstlerin miteinander in Verbindung stehen. Die Werkschau im Belvedere 21 (vormals 21er Haus) illustriert das augenfällig: Auch ohne das am Eingang mitgelieferte Booklet ergibt sich in dem – aus konservatorischen Gründen abgedunkelten – Saal ein Parcours vom Früh- zum Spätwerk, lassen sich Rückgriffe und Inspirationen nachvollziehen.
Abgegossen
Whitereads vorrangiges künstlerisches Medium ist der Abguss: Mit Gips, Epoxidharz, Beton oder Papiermaschee gießt sie ausgewählte Räume aus und und schafft massive, monumentale Formen, wo sonst Leere wäre. Die "25 Spaces", die am Eingang der Schau in Wien als erstes ins Auge stechen, entstanden etwa aus den mit Harz ausgefüllten Leerräumen unter verschiedenen Sesseln.
Schon als formales Experiment gibt diese Vorgehensweise einiges her, und Whiteread ist nicht die erste, die diesen Pfad beschritt – Bruce Nauman etwa goss bereits 1965 die Unterseite seines Stuhls ab. Was das Werk der Britin aber charakterisiert, ist die Positionierung der Abgüsse in einem genau überlegten Koordinatensystem.
In der zentralen Halle des Belvedere 21 nimmt etwa der "Room 101" einen prominenten Platz ein: Es ist ein Abguss exakt jenes Zimmers im ehemaligen Gebäude der BBC, der George Orwell zu der Schreckenskammer in seinem Roman "1984" inspiriert haben soll. Im genannten Zimmer werden in Orwells Dystopie Gefangene des totalitären Überwachungs-Staates mit ihrer größten Angst konfrontiert.
Unweit davon ist in der Schau ein flacher Abguss postiert, den Whiteread vom Boden im Münchner Haus der Kunst, dem einstigen Kunsttempel des Nazi-Regimes, abnahm. Die unsichtbaren Schichten und Ge-Schichten, die sich im Lauf der Zeit auf jenem Boden aufgetürmt haben, bekommen durch die Abformung wieder ein Stück physischer Präsenz zurück.
Wärme und Kälte
Doch Whitereads Plastiken tragen nicht nur Spuren politischer, sondern auch persönlicher Geschichte: Mit dunklem Material goss sie 1988 jenen Kasten aus, in dem sie sich als Kind einst versteckt hatte. Die abgeformten Wärmeflaschen, die ab 1990 entstanden, tragen die Erinnerung an körperliche Wärme und Nähe mit sich. Das Bedürfnis, emotionalen Zuständen Form und Dauer zu geben, spricht auch noch aus der 2005 entstandenen Serie "Contents", für die Whiteread zahllose Abgüsse von Pappkartons anfertigte: Ausgangspunkt dafür waren jene Kisten, die nach dem Tod der Mutter in deren Haus verblieben waren, Kisten voller Erinnerungen.
Als "Minimalismus mit Herz" wurde Whitereads Kunst oft bezeichnet, und obwohl sie den Begriff nicht wirklich mag, bekennt die Künstlerin, dass etwas Wahres dran sei: Formale Strenge hält bei ihr auf außergewöhnliche Art die Balance mit dem Ausdruck des eigenen Lebens und politischer Anliegen. Die Schau in Wien veranschaulicht die Konsequenz und Stimmigkeit dieses Weges über Jahrzehnte: Eine seltene Gelegenheit.
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