Minsker Mut: „Vom Gulag in den Bombenhagel“
Wie erleben eigentlich die Menschen in Belarus den Aufmarsch der russischen und belarussischen Militärs in ihrem Land? Was wissen sie über den Krieg in ihrem Nachbarland Ukraine?
Der KURIER hat den belarussischen Schriftsteller Victor Martinowitsch in Minsk erreicht, als der wieder einmal stabiles Internet hatte.
KURIER: Herr Martinowitsch, ist es gefährlich, dass Sie mir jetzt Auskunft geben?
Viktor Martinowitsch: Ja, es ist gefährlich. Aber ich habe mir das sehr gut überlegt. Ich möchte nicht schweigen.
Sie könnten jederzeit eingezogen werden.
Ja, jeder Weißrusse zwischen 18 und 60 hat derzeit Angst vor der Mobilmachung und auch vor dem Gefängnis. Dazu müssen Sie wissen: Wir sind inzwischen ein Land der Traumatisierten, ein Land der Depressiven. Wir haben derzeit aber auch tausend politische Gefangene – nach meinem Wissen mehr als das Riesenreich China.
Was machen Sie persönlich, wenn Sie den Einberufungsbefehl bekommen?
Das wäre für mich ehrlich gesagt ein Albtraum. Ich war bisher stolz darauf, dass ich dem Regime Lukaschenko hier im Land die Stirn geboten habe. Aber das wäre die endgültige Überschreitung einer roten Linie. Wenn das kommt, dann werde ich aus meiner Heimat fliehen.
Was wissen Sie, was wissen Ihre Landsleute über den Krieg in der Ukraine?
Wir Weißrussen hatten nun zwei Jahre lang Zeit, um uns in der Beschaffung von verlässlichen Informationen zu trainieren. Nach unserem Aufstand gegen Alexander Lukaschenko 2020 wurden alle unabhängigen Medien in unserem Land verboten. Heute weiß hier wirklich jeder, auch ältere Menschen, wie sie soziale Medien und Virtual Private Networks verwenden können. Es stimmt schon, wir haben eine sehr strenge Propaganda, aber niemand schaut, geschweige denn glaubt
den Regierungssendern. Die interessieren wirklich niemanden.
Sie sind besser informiert, als viele im Westen denken?
Wir haben in Belarus alle Informationen, die auch die Menschen in der noch unabhängigen Ukraine haben. Gut, viele schauen hier nicht CNN oder BBC, aber nur, weil sie nicht die englische Sprache verstehen. Da gibt es jedoch noch etwas Wichtiges.
Und zwar?
Vergessen Sie nicht, dass viele Menschen in Belarus einen Onkel, eine Cousine oder auch gute Freunde in der Ukraine haben. Und noch etwas will ich betonen: Wir haben diesen Präsidenten nicht gewählt.
Haben auch Sie Kontakt zu Menschen in der Ukraine?
Ja, einige gute Freunde sind drüben. Stellen Sie sich nur deren Schicksal vor: In unserem Land saßen sie im Gefängnis – und jetzt in der Ukraine im Luftschutzkeller. Was für ein Pech haben diese Menschen: vom Gulag in den Bombenhagel. Damit noch nicht genug, werden sie als Weißrussen in der Ukraine derzeit auch angefeindet.
Wird Lukaschenko Ihr Land in den Krieg führen?
Das Problem ist: Putin hat ihn ausgetrickst. Unser Präsident war sehr naiv – und ist jetzt nicht viel mehr als eine Marionette des russischen Präsidenten. Der wiederum hat bisher nur dann einen Krieg beendet, wenn er alleine der Meinung war, dass er ihn gewonnen hat. Er kann keinen Fehler zugeben, kann sich auch nicht entschuldigen. Ich befürchte daher, dass der Krieg aufgrund des erbitterten Widerstands der Menschen in der Ukraine noch sehr lange dauern wird.
Wovon leben Sie derzeit?
Einzig von den Erlösen, die meine Bücher erzielen.
Kommen Sie in diesen Tagen überhaupt zum Schreiben?
Nein. Ich komme nachts nicht mehr zum Schlafen, und ich kann mich tagsüber nicht mehr konzentrieren.
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