Ohne Vinyl ist das Leben sinnlos

"Telegraph Avenue", der neue Roman des "Wonder Boys"-Autors, huldigt dem Einzelhandel.

Ein bisserl was fürs Herz: Hier geht’s darum, dass die Welt von gestern, die Welt der Schallplatten- und Sticker-Alben-Sammler, weiterleben darf. Michael Chabons neuer Roman "Telegraph Avenue" ist eine warmherzige, romantische, pralle Ode an den fachkundigen Einzelhandel. An Sammelkarten-Läden namens "Mr. Nostalgias Refugium" und an kleine, auf Jazz und R&B spezialisierte Plattenhändler, die sich als "Kirche des Vinyl" sehen und gegen dreistöckige Mega-Stores ankämpfen.

Ein bisschen anstrengend ist dieses Buch, und einfach bezaubernd.

Rückblende in das Jahr 2000. Michael Douglas alias Grady Tripp, ein College-Professor und Ex-Bestsellerautor mit Schreibblockade, sitzt vor seiner Schreibmaschine und raucht, auf der verzweifelten Suche nach Inspiration, einen Joint nach dem anderen. Dabei trägt er den puffärmeligen rosa Frotteebademantel seiner Frau, die ihn kürzlich verlassen hat.

Moderner Klassiker

Ohne Vinyl ist das Leben sinnlos

Die Szene stammt aus dem Film "Wonder Boys" von Curtis Hanson. Die literarische Vorlage dazu schrieb der Washingtoner Autor Michael Chabon, und sie ist so etwas wie ein moderner Klassiker. Er verarbeitete in der 1995 erschienen Tragikomödie sein Scheitern an einem Roman. Chabon, damals Mitte 30, war drauf und dran, nach seinem 1985 erschienenen Debüt "Die Geheimnisse von Pittsburgh" zur literarischen Eintagsfliege zu werden.

Wie sein bekiffter Held Grady Tripp litt Chabon an Schreibblockade. Er überwand sie und legte seither vier Romane vor, zuletzt die wahnwitzige Polit-Krimi-Mischung "Die Vereinigung jiddischer Polizisten".

Mit "Telegraph Avenue" ist er wieder etwas bodenständiger. Im Grunde geht’s hier um die Anforderungen, Jungvater und Besitzer eines maroden Ladens zu sein.

Von Schreibblockade ist bei Chabon keine Rede mehr. 584 dichte Seiten sind es geworden. Voll liebevoll beobachteter Details, die sehr filmisch wirken, bei denen sich unkonzentrierte Leser aber zwischendurch verzetteln könnten. Das wäre schade, denn diese Story ist hinreißend.

Allen voran der liebenswerte Hauptdarsteller: "Mondgesichtig, massig und mild bekifft stand Archy Stallings, ein Baby auf dem Arm, in einem rehbraunen Kordanzug und einem kürbisfarbenen Rollkragenpullover (...) hinter dem Verkaufstresen von Brokeland Records."

Secondhand-Laden

Der schwarze Archy und der weiße, meist schlecht gelaunte Nat Jaffe ("nörgelnde Nervensäge, aber mein bester Freund"), leiten den Secondhand-Plattenladen "Brokeland Records" in Oakland. Das Geschäft liegt an der "Telegraph Avenue", die die Industriestadt, aus der die Black Panthers stammen, mit der weiß geprägten Universitätsstadt Berkeley, wo Schriftsteller Chabon lebt, verbindet.

Das Setting mit dem Plattenladen voll eigenwilliger Besucher erinnert an Nick Hornbys "High fidelity" und tatsächlich ist auch "Telegraph Avenue" eine Liebeserklärung an die Musik: Auf nahezu jeder Seite werden Platten von Duke Ellington, Jimi Hendrix oder Lauryn Hill besprochen. Relativ oft kommen auch die Namen Quentin Tarantino und Bruce Lee vor.

Baseball-Legende

Golfkriegs-Veteran Archy hat an mehreren Fronten zu kämpfen: Hauptgegner ist die Baseball-Legende Gibson Goode, der fünftreichste Schwarze Amerikas, der gleich nebenan einen dreistöckigen Mega-Store eröffnen will. Was Archys Laden den Todesstoß versetzten würde.

Und dann ist da sein Vater Luther Stallings, Ex-Kung-Fu-Weltmeister und Ex-Filmstar, der ihm ständig auf der Tasche liegt. Eine weitere Herausforderung ist Archys eifersüchtige, hochschwangere Frau Gwen, eine Hebamme und Verfechterin von Hausgeburten, die einen Glaubenskrieg gegen die Spitalsbürokratie führt.

Am Rande dieses köstlich überdrehten Romans hat auch Barack Obama einen Kurzauftritt: wir befinden uns im Jahr 2004 und Obama ist ein junger, lässiger Senator, aus dem vielleicht einmal etwas wird. Hier genießt er bei einer Party die Musik von Stevie Wonder und den Anblick hübscher Frauen, mit denen er aber nicht tanzt– seine Frau hätte wohl was dagegen.

Sind die Themen des Romans sterbender Fachhandel und akuter Geldmangel, so betrifft das wohl nicht Chabons amerikanischen Verleger HarperCollins: Laut Washington Post kostete die Marketing Kampagne für diesen Roman 2012 sagenhafte 250.000 Dollar.

KURIER-Wertung:

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