Es ist eine Frage, die man sich wahrscheinlich noch nicht sehr oft gestellt hat. Man überlegt sich im Idealfall, was man seinen Kindern hinterlassen will, und wenn man weitsichtig ist, noch den Enkelkindern. Weiter in die Zukunft wird es schon schwierig, siehe Umgang mit der Klimakrise. Martin Kunze stellt aber eine ganz verwegene Frage: "Was würden Sie aus Ihrem Leben ewig aufbewahren wollen – oder zumindest ein paar Tausend Jahre, bis es von Archäologen der Zukunft gefunden wird?"
Martin Kunze erstellt nichts weniger als ein Archiv der Menschheit. Er sammelt wissenschaftliche Berichte, Zeitungsartikel und persönliche Zeugnisse, die die eingangs erwähnte Frage beantworten. Das alles speichert er nicht auf CDs oder Festplatten – das neumodische Zeugs ist archäologisch gesehen unbrauchbar. Er nimmt sich ein Beispiel an babylonischen Tontafeln. Nur, dass seine Datenträger Badezimmerfliesen sind. Die halten nämlich alles aus, eine Million Jahre lang. Solange sie gut geschützt sind. Und das sind sie, er lagert sie nämlich im Salzbergwerk von Hallstatt.
Das klingt jetzt alles schon ziemlich fiktiv. Ist es aber nicht. Viele internationale Medien haben sich schon mit Kunzes Projekt befasst, unter anderem die "New York Times". Und diesen Artikel hat der schwedische Regisseur Marcus Lindeen gelesen.
Amnesie in Groß und Klein
Er hat ihn zum Theaterabend "Memory of Mankind" inspiriert, der am Donnerstag bei den Festwochen im Jugendstiltheater Premiere hatte. Er widmet sich den Fragen "An was soll man sich erinnern? An was will man sich erinnern? Wie soll man sich an etwas erinnern? Und wer entscheidet das überhaupt?"
Lindeen verbindet die Geschichte des Salzbergwerkarchivs mit zwei anderen: der eines Mannes, der in unregelmäßigen Abständen sein Gedächtnis komplett verliert. Und der eines queeren Archäologen, der ausgelöschten Spuren homosexuellen Lebens in der Historie nachforscht. Wie eine kleine Arena oder ein Hörsaal ist der Raum eingerichtet, das Publikum sitzt auf breiten Holzstufen, die Akteure und die Akteurin (Sofia Aouine, Driver, Axel Ravier, Jean Philippe Uzan) sitzen auf den untersten Stufen. In der Mitte stehen mehrere Kisten mit den geschichtsträchtigen bedruckten Fliesen.
Geschichtsversionen
Der Archäologe erzählt vom sogenannten "Grab der Brüder" in der Nekropole in Sakkara in Ägypten. Seine Interpretation der Grabbilder - sie folgt der Theorie eines US-Wissenschafters - von zwei auffallend innig dargestellten Männern ist nachvollziehbar. Die beiden Männer hatten eine Beziehung, und zwar keine geschwisterliche. Aber trotzdem, so meint er, würde es Forschern leichter fallen, die Männer als siamesische Zwillinge zu identifizieren denn als Schwule.
Dass Geschichtsschreibung immer Perspektive hat, immer auch Machtausübung ist, das zeigt das Schicksal des amnesieerkrankten Mannes im Kleinen. Seine Frau lässt immer das Handy als Tonband mitlaufen, sie dokumentiert das ganze Leben für ihn, falls er es wieder vergisst. Er vertraut ihr aber und hört sich diesen Datenwust nie an. Sie erzählt ihm ohnehin immer wieder, wer er ist. Aber sie erzählt ihm halt ihre Version von ihm. Das wird am deutlichsten, wenn die Sprache auf den Sex kommt. Sie muss ihm, der sich nach jedem Anfall bei einer Erektion erschreckt, alles neu zeigen. "Aber ich zeige ihm nur das, was mir gefällt."
Fußnote bei Häkeloutfits
Auch die Bühnenversion von Kunze muss zugeben, dass die Beiträge in seinem Archiv nicht ganz ungefiltert auf die Fliesen gedruckt werden. Er zeigt eine mit Hunden in Häkeloutfits: "Da habe ich als Fußnote dazugeschrieben, dass nicht alle Hunde so ausgesehen haben." Außerdem nehme er keine Kinderpornografie und keine Nazipropaganda auf. Durchaus diskussionswürdig, meinte nicht nur der Archäologe.
"Memory of Mankind" sind 90 kurzweilige, lehrreiche und überraschende Minuten, die angenehm unverkopft zum Denken auffordern. Und wenn es nur ist, was man selbst Martin Kunze schicken würde, um es auf 20 x 20cm zu verewigen. Aber Achtung: Hundeoutfits sind wie gesagt schon vergeben. Und Lebkuchenrezept auch schon.
Vorstellungen noch am 7. Juni, 20 Uhr und am 8. Juni, 18 und 21 Uhr
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