Netflix, wir müssen reden: Masse statt Qualität

Netflix, wir müssen reden: Masse statt Qualität
Netflix wirft sich mit überschüssiger Massen an Content in den Streamingkrieg.

Auch im Streaming-Krieg gibt es viele Strategien.

Spätestens seit dem Eintritt von Disney ins neue Fernsehzeitalter (der Mauskonzern startete eine eigene TV-Plattform) sind die sogenannten „Streaming Wars“ eröffnet: Zahlreiche alte und neue Medienkonzerne rangeln mit rund um die Uhr abrufbarem Fernsehcontent um das Publikum der Gegenwart.

Der Platzhirsch Netflix wird hier gerne in die Defensive geschrieben: Jene Plattform also, die das Streamingfernsehen an ein erstes Massenpublikum gebracht hat. Analysten sehen Netflix aber für die nächste Ausdehnungsstufe schlecht gerüstet: Disney+ habe im Vergleich zu Netflix ein überbordendes Archiv, mit „Star Wars“, Pixar und Marvel drei der lukrativsten Popkulturmaterialien überhaupt. Und noch dazu eine in jahrzehntelanger Feinarbeit hochgerüstete Marketingmaschine, die gerade beim „Star Wars“-Kinofilm zeigt, was sie kann.

Materialschlacht

Aber auch Netflix hat sich in den vergangenen Jahren Muskeln auftrainiert – wie die aktuell kursierenden Zahlen für das Jahr 2019 zeigen.

Denn die erste Schlacht im Streamingkrieg war ganz offensichtlich eine Materialschlacht.

Netflix hat in diesem Jahr mehr als eine neue Serie bzw. einen neuen Film pro Tag rausgeworfen, und insgesamt mehr Neuproduktionen auf den Markt gebracht als noch 2005 die gesamte (!) US-Fernsehlandschaft.

Das berichtet Variety. 371 neue Serien und Filme waren es demnach insgesamt, ein Plus von mehr als 50 Prozent gegenüber 2018.

Gegenüber dem regulären TV hat sich dieser Einsatz schon ausgezahlt: 34 Golden-Globe-Nominierungen hat Netflix eingeheimst, das reguläre US-Fernsehen (ohne Kabel und Pay): 0.

Damit arbeitet Netflix auf Hochtouren daran, nicht nur aktuelle Aufmerksamkeit einzustreifen, sondern auch ein eigenes Archiv aufzubauen – um Disney+ auf lange Sicht Paroli zu bieten.

Nach Bekanntgabe der (guten) internationalen Abozahlen schnellte auch die Aktie hoch. Gut für Netflix, denn es wird weiter Geld brauchen. Das fließt willig. Kriege werden, so sagt man heute, vorwiegend um Öl geführt. Das trifft auch auf den Streamingkrieg zu – denn die Branche ist so viel wert wie Öl. Wie der Economist vorrechnet: 100 Milliarden Dollar wurden 2019 in Streamingcontent investiert, ungefähr so viel wie in die mächtige US-Ölindustrie. 6 Millionen Dollar – damit mehr als jeder österreichische Kinospielfilm – kostet eine einzige Serienfolge im Durchschnitt.

Breit geschossen

Dieses Geld ist wahrlich nicht immer gut eingesetzt. Gerade Netflix hat mit einigen seiner Produktionen zuletzt eher breit geschossen als genau gezielt: In der Vorweihnachtszeit hat der Dienst mit Masse statt mit Klasse zu punkten versucht. Aufdringlich vorhersehbar, lieblos gespielt, klischeebeladen: Mehrere Weihnachtsserien und -Filme, aber auch einige Versuche der Wiederbelebung des Genres „Romantische Komödie“ haben zuletzt fatal an das reguläre Fernsehen, an den einst als Herabwürdigung gemeinten Begriff des Fernsehfilms gemahnt. Zu den Perlen des Streamings gesellte sich viel Meterware. Aber damit ist Netflix nicht allein, denn die Nostalgie täuscht (wie immer): Auch das Disney-Archiv ist keineswegs eine Schatzkammer voller Edelsteine. Vieles von einst, das jetzt abrufbar gemacht wurde, spricht heute nur ein sehr kleines (und eher älteres) Publikum an.

Die Contentmaschine wird jedenfalls weiter hochfahren: 2020 gesellen sich neue Teilnehmer zur Streamingschlacht. Und irgendwann folgt wohl eine brutale Marktbereinigung.

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