Manuel Legris: "Der falsche Ort für Provokation"

Interview mit Manuel Legris, Ballettdirektor der Wiener Staatsoper, am 18.02.2013.
Ballettchef Manuel Legris im Interview über seinen Mentor Nurejew und den Kulturschock Wien – Paris.

Seit drei Jahren ist der 47-jährige Pariser Manuel Legris Ballettchef der Wiener Staatsoper. Ausgebildet an der Pariser Oper, wurde er 1986 vom damaligen Ballettdirektor Rudolf Nurejew zum Danseur Étoile, zum ersten Solotänzer, ernannt. In Legris’ Wiener Büro hängt eine riesige Fotografie seines Mentors. Dem KURIER erzählte er, warum.

KURIER: ParisWien: Wie groß war der Kulturschock?

Manuel Legris: Groß! Wien hat den Ruf, schwierig zu sein. Ballett hat hier nicht oberste Priorität. Ich wusste, ich muss die Ärmel aufkrempeln. Nach drei Jahren kann ich sagen: Ich habe viel geleistet, aber nichts von Wien gesehen.

Viele Franzosen, die hier leben, reden nur von Paris.
Dieses Problem hab ich nicht. Klar, es gibt Mentalitätsunterschiede. Vieles ist hier sehr bürokratisch. Neue Ideen umzusetzen ist nicht einfach. Auch, was das Leben außerhalb der Oper betrifft: Alles ist so organisiert. Ich habe hier eine Wohnung gemietet, so etwas habe ich in Paris noch nicht gesehen. Dort gibt es immer Probleme, Wasser, Strom, irgendwas ist immer kaputt. Hier ist alles so solide, alles funktioniert. Man sagt ja nicht umsonst, dass Wien Nummer 1 in Lebensqualität ist.

Aber eine wunderbare Ordnung ist nicht immer sexy.
Klar, Paris soll ja die Stadt der Träume sein, aber es gibt so viele Probleme dort. Hier ist es sehr angenehm für mich. Aber ich kenne ja nichts anderes als die Arbeit.

Sie haben tatsächlich nie frei?
Nein, nie. Ich weiß, ich bin eigen. So lange ich nicht habe, was ich will, gebe ich nicht auf. Manchmal frag’ ich mich, ob ich das mein ganzes Leben so machen werde.

Sie müssen ein furchtbarer Vorgesetzter sein.
Ha, das gefällt mir! Nein, ich bin nicht furchtbar. Ich habe viele Ideen, und ich verlange ein bestimmtes Niveau. Ich habe meinen Vertrag unterschrieben und ich will ihn auch ausfüllen.

Herausforderung ist gut, aber man kann es auch übertreiben.
Ja, ich frag’ mich das auch langsam. Vielleicht werd ich mich einmal beruhigen. Aber im Moment gibt es noch viel zu tun.

Was sagen Ihre Tänzer dazu?
Die halten mich vielleicht für etwas merkwürdig. Aber ich will hier etwas bewegen. Es stimmt, es gibt Momente, wo ich niedergeschlagen bin, an meine Freunde denke, die ich nie sehe. Arbeit ist wichtig, aber nicht alles.

Apropos Vertrag: Dominique Meyers und Franz Welser-Mösts Verträge wurden verlängert, sie bräuchten Ihren bloß unterschreiben. Wann tun Sie es?
Ich brauche immer etwas länger. Ich habe ein ganzes Jahr darüber nachgedacht, ob ich hierherkommen möchte. Jetzt muss ich eben noch ein bisschen nachdenken, ob ich bleiben werde.

Was könnten Sie sich in Zukunft vorstellen?
Ich habe nie Pläne geschmiedet. Mir ist immer alles zugefallen. Ich vertraue dem Leben. Diese Einstellung hat mir immer Glück gebracht. Vielleicht habe ich das Glück angezogen.

Kommen Sie aus einer Künstlerfamilie?
Nein, meine Mutter war Verkäuferin in den Galeries Lafayette, mein Vater Flugzeugmechaniker. Ich hörte als Vierjähriger Musik und wusste, ich will tanzen. Ich ging in die Tanzschule. Mit elf schickte man mich in die Ballettschule der Pariser Oper. Dort traf ich alle großen Choreografen: Kenneth MacMillan, Jerome Robbins, George Balanchine ... ich hatte viel Glück, es war eine großartige Epoche. Die Aufgabe meiner Generation ist es, dieses Wissen weiterzugeben.

Wie findet man den Ausgleich von Tradition und Innovation?
In Wien ist das schwierig. Das Publikum für modernen Tanz ist da, wie man am ImpulsTanzFestival sieht. Aber in der Staatsoper ist das Publikum konservativer. Man muss einen Konsens finden. Für Provokation ist dieses Haus der falsche Ort.

Manuel Legris: "Der falsche Ort für Provokation"
staatsoper
Auch bei der Nurejew-Gala geht es um Traditionen?
Natürlich. Nurejew ist eine Legende. Ich bin sehr glücklich, dass die Galas so gut angenommen werden.

Über Ihre Schulter schaut dabei stets sein Porträt.
Ich hatte dieses Bild schon in Paris immer dabei. Es besitzt eine gute Ausstrahlung. Es beschützt mich.

Wie alt waren Sie, als Sie ihn kennengelernt haben?
Wenn man eine Persönlichkeit wie ihn trifft, dann verändert das das Leben. Ich war 17. Ein junger Tänzer. Er ging durch die Reihen und zeigte auf jene, mit denen er arbeiten wollte. Wir waren derart beeindruckt. Ich glaube, deshalb arbeite ich auch so hart mit der Kompanie: Ich habe so viel bekommen, so viel von ihm gelernt, dass ich das nicht alles für mich behalten kann. Ich glaube, er wäre stolz auf mich, würde er sehen, was mir hier schon gelungen ist.

Stimmt es, dass er Sie auf der Bühne der Metropolitan Opera zum Danseur Étoile ernannt hat?
Ja, vor 3500 Leuten. Ein fantastisches Erlebnis.

Nurejew ist eine Legende – auch, weil er einen Ruf als Diva hatte.
Ich kannte ihn gut. Ich respektierte und bewunderte ihn. Er war Idol und Vaterfigur für mich. Er konnte ausgehen, die ganze Nacht trinken – er war in dieser Hinsicht ein typischer Russe, trank gerne Wodka – doch er war am nächsten Morgen pünktlich beim Training. Er war eben nicht wie alle anderen. Viele Leute sehen nur seine hochtrabende, sehr cholerische Seite. Aber er war auch so großzügig, förderte die Jungen. Und ja, er hatte natürlich auch viele Prozesse am Hals, weil er hin und wieder Ohrfeigen verteilte ...

Auch an Sie?
Nein, nie. Aber er war ein Hitzkopf. Und eine echte Diva. Allein seine Art, sich anzuziehen! Er liebte Blousons aus Krokoleder. Wie ein Rockstar! Er war außerhalb jeder Norm. So etwas gibt es heute nicht mehr.

Finden Sie das schade?
Ja, die Leute brauchen doch etwas, wovon sie träumen können.

Man habe ihm ursprünglich abgeraten von dieser Gala, erzählt Manuel Legris. Der Erfolg solcher Veranstaltungen sei enden wollend. Der Ballett-Direktor hat sich nicht entmutigen lassen.

Die Nurejew-Gala (am Samstag, 18 Uhr), die Legris seit seinem Amtsantritt an der Wiener Staatsoper 2010 jährlich als Saisonabschluss veranstaltet, wurde zum Publikumserfolg und ist mittlerweile fixe Einrichtung. In diesem Jahr steht die Hommage an die russische Ballett-Legende unter dem Eindruck zweier Jubiläen: Dem 75. Geburtstag und dem 20. Todestag des 1938 in einem Zug der Transsibirischen Eisenbahn geborenen Tänzers und Choreografen.

Ausgehend vom romantischen Ballett La Sylphide (Pierre Lacotte – Jean-Madeleine Schneitzhoeffer) spannt sich der Bogen zu Meisterwerken der Choreografie des 20. Jahrhunderts wie Apollo (Choreografie: George Balanchine – Musik: Igor Strawinski).

Neben Werken des Choreografen Rudolf Nurejew selbst wird mit Vaslaw von John Neumeier (Musik: Johann Sebastian Bach) dem Berufsbild des Tänzer-Choreografen Referenz erwiesen.

Raymonda (Rudolf NurejewAlexander Glasunow) kehrt nach langer Abwesenheit in die Wiener Staatsoper zurück – ein Werk, das auch aus musikalischer Sicht zu den großen Momenten der Ballettgeschichte zählt und Orchester wie Ballett gleichermaßen fordert.

Einen besonderen Höhepunkt bildet der Pas de deux aus Léo Delibes Sylvia in der Fassung von John Neumeier: Manuel Legris wird ihn mit Aurélie Dupont tanzen.

Ein weiterer Star-Tänzer des Balletts der Pariser Oper, Mathieu Ganio, musste verletzungbedingt absagen. An seiner Stelle tanzt Masayu Kimoto.

Die 26-jährige Olga Esina, die seit dem Amtsantritts von Manuel Legris als Ballett-Direktor den Titel der „Ersten Solotänzerin“ trägt, wird in in Balanchines „Apollo“ und in „Raymonda“ zu sehen sein.

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