Das Entführungsdrama macht schlank

German writer Linus Reichlin gestures during a break in the annual Festival of German Language Literature (Bachmannpreis) in Klagenfurt July 9, 2011. REUTERS/Herwig Prammer (AUSTRIA - Tags: ENTERTAINMENT HEADSHOT PROFILE MEDIA)
Ein desillusionierter, verfetteter Journalist lernt in Linus Reichlins "Das Leuchten in der Ferne" die Taliban kennen.

Moritz Martens ist der Mann der Stunde. Passt zum Zeitungssterben. Ein abgehalfterter Journalist, dem vom Wohlstand nur der Bauch blieb. (Er denkt ständig ans Essen. Dazu braucht er Wein und Rilke-Zitate.)

Früher hat Martens Reportagen an Magazine verkauft. Vorbei. Heute sitzen in den Redaktionen ja überall die jungen Absolventen der Henri-Nannen-Schule, „deren Lebenserfahrung in eine Streichholzpackung passt“.

Dass es mit seiner eigenen Lebenserfahrung auch nicht rasend weit her ist, wird er erfahren, als er in Afghanistan von Taliban entführt wird.

Martens, laut eigener Wahrnehmung erfahrener Kriegsreporter, ist einer Frau aufgesessen, die er auf dem Magistrat kennengelernt hat. Sie hat ihn in eine abenteuerliche Geschichte verwickelt: Sie kenne eine junge Afghanin, die als Mann verkleidet mit einer Talibangruppe durch die Berge ziehe. Sie, Miriam, könne vermitteln. Die tolle Story wäre für 10.000 Dollar zu haben. Martens gelingt es, die Okkasion einem ehemaligen Arbeitgeber aufzuschwatzen und reist mit Miriam unter Schirmherrschaft der deutschen Bundeswehr nach Afghanistan. Dass mit Miriam, als angebliche Fotografin dabei, einiges nicht stimmt, erkennt er früh, will es aber nicht wahrhaben. Sie sieht gut aus, und er sieht seine letzte Chance zum Leben, zur Liebe, zur Story.

Alles egal

Irgendwann, in der afghanischen Bergwüste, wird alles egal. Hunger, Schmerzen, Kälte. Er wird von brutalen Hasspredigern entführt. Die ihm dennoch ans Herz wachsen. Stockholmsyndrom? Vielleicht. Er nimmt ihre menschlichen Seiten wahr: Auch Entführer haben Durchfall. (Auch er wird schlank und seinen Schwanz beim Pinkeln wieder sehen.)

Der Berliner Linus Reichlin, Jahrgang 1957, ist ein mehrfach ausgezeichneter Krimiautor („Die Sehnsucht der Atome“).

Das Entführungsdrama macht schlank
„Das Leuchten in der Ferne“ ist sein erster Roman, man merkt ihm die Krimi-Vergangenheit des Verfasser an. Reichlin erzählt zügig, weiß Spannung aufzubauen, Höhepunkte hinauszuzögern (oft mit zu viel Lyrik und Kulinarik, ständig liest man von Chardonnay und einem Hauch von irgendwas).

Leichtfüßig verpackt Reichlin ein quälendes Stück Gegenwart in eine spannende Story: Afghanistan, wo Familien Mädchen in Bubenkleider stecken, um ihnen Freiheiten wie Schulbildung und Fußball zu ermöglichen. Und nicht zuletzt, um selbst etwas zu gelten. Denn eine Familie, die nur Töchter in die Welt setzt, ist nichts wert.

Zwischen Entführungskrimi und Lust auf Wein bringt Reichlin ein solches Mädchendrama näher.

KURIER-Wertung: **** von *****

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