„L’Étang / Der Teich“: Die Hölle – das sind die Geschichten im Kopf

Mit einem geradezu entgeisterten Gesicht und völlig ausdruckslosen Augen: Adèle Haenel in „L’Étang / Der Teich“
Um 1902, mit Mitte 20, verfasste der Schweizer Schriftsteller Robert Walser ein kleines Stück namens „Der Teich“: Fritz ist auf seinen Bruder Paul eifersüchtig, der sich alles erlauben dürfe, er fühlt sich von seiner Mutter ungeliebt – und täuscht schließlich vor, im nahe gelegenen Teich ertrunken zu sein. Das Ende ist Wunschdenken.
Walser schenke das Manuskript seiner Schwester Fanny, die es vor ihrem Tod 1972 zugänglich machte. Als Einziges seiner Werke ist es in berndeutscher Mundart („si Chopf isch es ganzes Buech voll Gschichte“) geschrieben. 2014 erschien bei Insel eine „zweisprachige Ausgabe“, ins Hochdeutsche übersetzt vom Dramatiker Händl Klaus und vom Lyriker Raphael Urweider.
Und dieses fiel der französisch-österreichischen Choreografin, Künstlerin und Theaterregisseurin Gisèle Vienne in die Hände: Ende 2020 fand in Rennes die Uraufführung ihrer verstörenden, äußert artifiziellen Interpretation statt. Nach mehreren Stationen quer durch Europa ist die französischsprachige Produktion noch bis 28. Mai im Rahmen der Wiener Festwochen im Jugendstiltheater am Steinhof zu sehen.
Es gibt durchaus Analogien zum leider eher dürftig geratenen Gedankenspiel „Una imagen interior“ (Ein Bild aus dem Inneren) von El Conde de Torrefiel: Auch „L’Étang“ ist in erster Linie ein innerer Monolog.
Gisèle Vienne hat Walsers Stück in der Gegenwart verortet: Als Ouvertüre hängen Jugendliche in einem und rund um ein ungemachtes Bett ab – man denkt unweigerlich an die Installation „My Bed“ von Tracey Enim aus 1998. Es handelt sich aber um lebensgroße Puppen, mit denen Gisèle Vienne gerne arbeitet. Ein Bühnenarbeiter trägt sie hintereinander aus dem White Cube – und zwei Schauspielerinnen, Adèle Haenel und Henrietta Wallberg, erobern nach und nach in extremer Zeitlupe den neutralen Gedankenraum. Sie definieren sich durch ihre Körperhaltungen: Die eine verkrümmt sich, die andere steht in Jeans mit beiden Beinen im Leben.
Mit der Zeit wird klar, dass Henrietta Wallberg für alle Erwachsenen steht (in erster Linie aber für die Mutter, zu der Walser eine sehr enge, vielleicht zu enge Beziehung hatte). Und Adèle Haenel, burschikos gekleidet, erspricht nicht nur Fritz, sondern alle jungen Menschen, auch Paul, Klara, Heinrich und Otto. Mit einem geradezu entgeisterten Gesicht, völlig ausdruckslosen Augen.
Es geht, unausgesprochen, um Missbrauch. Gisèle Vienne setzt Verstärker und Hall ein, sie zieht zusammen mit Yves Godin (Licht) sowie Stephen F. O’Malley und François J. Bonnet (Musik) alle Register, um eine Hölle zu erschaffen. Äußerst präzise, äußerst beklemmend, aber wenig gemütlich.
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