Die "Neue Sachlichkeit", die sich durch eine Ausstellung 1925 als Dachbegriff für gegenständliche Kunst in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg etablierte, war wohl selbst als Krücke gedacht: Nicht nur zahllose menschliche Körper, auch Seelen und die Gesellschaft als Ganzes waren vom Krieg versehrt worden, man sehnte sich nach Ordnung und Form.
Versehrt
Der Expressionismus, zuvor das dominante Stilprinzip, sei nicht mehr in der Lage gewesen, die Realität der Nachkriegszeit zu erfassen, sagt Museumsdirektor Hans-Peter Wipplinger, der - nicht zuletzt dank guter Kontakte in private Sammlungen - eine eindrucksvolle Rundschau von 39 Künstlern und 8 Künstlerinnen zusammenstellte und damit die Epoche in einer bisher in Wien nicht gekannten Breite vorführt (bis 29. 9. 2024).
Allerdings, das wird im Gang durch die Räume sehr deutlich, bedeutete die generelle Hinwendung zu mehr Sachlichkeit und Realismus keineswegs gleich die Abkehr vom Irrationalen, Rauschhaften oder dem Drastischen: Figuren wie George Grosz und Otto Dix standen exemplarisch für einen Blick, der tief in die Zwischenwelten und die Abgründe schaute.
Ungeschminkt
Manchmal war der so genannte "Verismus", also die bildnerische Wahrheitssuche, von einem politischen Ziel getrieben, wollte das Leid der Arbeiter und Versehrten zeigen. Manchmal bedeutete Verismus auch Voyeurismus: Etwa in den schockierenden Bildern von Frauenleichen, die der Zeichner Rudolf Schlichter 1924 zu Papier brachte. Der damals gängige Titel "Lustmord" wurde in der Schau übernommen, heute würde man wohl "Femizid" sagen. Tatsächlich war das Thema in der Weimarer Republik omnipräsent: Eine vom Krieg traumatisierte Männergeneration stand dort einer neuen Generation von Frauen gegenüber, die sich abseits bürgerlicher Normen neu erfand.
Man kann der Schau ankreiden, dass sie viele der heute wieder brisanten Themen - etwa die Debatte um Geschlechteridentitäten und queere Sexualität oder Zeichen des aufkeimenden Faschismus - nicht noch expliziter aus der historischen Materie herausschält: Generell behält sie die Atmosphäre eines kunsthistorischen Rundgangs, der auch einer Fokussierung auf die reine Malerei und die technische Brillanz vieler neusachlicher Künstler nicht entgegen steht.
Kaktus auf dem Vulkan
Doch wahrscheinlich ist das Material auch so stark genug, um Verbindungen zur Gegenwart spürbar zu machen: Das Gefühl einer wackligen gesellschaftlichen Balance und einer Polarisierung im Sozialen und Zwischenmenschlichen dürfte in den 1920ern durchaus mit heute vergleichbar gewesen sein.
Die Kälte und die ausgestellte Emotionslosigkeit, die in der Schau am besten in den Gemälden von Christian Schad zum Ausdruck kommt, war ein Rüstzeug gegen den Alltagswahnsinn - ebenso wie die Flucht in apokalyptische Welten und in kleine Refugien der Beschaulichkeit, denen die Ausstellung je eigene Kapitel widmet. Dass der "kleine grüne Kaktus" nicht nur im Schlager, sondern auch in der Stilllebenmalerei der Zeit ein populäres Motiv war, nimmt man als ein Aha-Erlebnis aus der Ausstellung mit.
Kommentare