Natürlich ist es nicht so einfach möglich, direkte Parallelen von historischen Erscheinungen und der Gegenwart zu ziehen. Dennoch findet die Corona-Krise – mit ihren Ausgangsbeschränkungen und der Maskenpflicht an öffentlichen Orten – durchaus gedankliche Resonanzräume in einer Zeit, die der Soziologe Max Weber 1919 als „Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“ charakterisierte.
Ein Klima der Abkühlung und Entfremdung konstatierte die zeitgenössische Kunst schon vor der aktuellen Krise. In der Themenschau „Antarktika“ der Kunsthalle Wien 2018 sah man etwa Fotos der polnisch-britischen Künstlerin Joanna Piotrowska, in denen sich Menschen inmitten ihrer Wohnräume Zufluchtsorte bauen oder sich mit leeren Blicken in den Armen liegen. Mehr oder weniger bewusst schwang darin die Ästhetik der 1920er mit.
Der Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ war ursprünglich eine Erfindung des Kunstsystems: Er war Titel einer Ausstellung, die 1925 in der Kunsthalle Mannheim gezeigt wurde und „deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ zusammenbrachte. Doch er schwappte rasch über, erfasste Literatur, Philosophie und Alltagskultur.
Quer durch die Geisteswelt konstruierte sich in jener Zeit ein Menschentyp, den der Literaturwissenschafter Helmut Lethen in seinem 1994 erschienenen Standardwerk „Verhaltenslehren der Kälte“ als „kalte Persona“ bezeichnete: Das individuelle Ich verschwand hinter einer Maske, Unmittelbarkeit und Distanzlosigkeit wurden als Lächerlichkeit dargestellt. Was freilich nicht bedeutete, dass hinter der harten Schale nicht ein Mensch lebte und litt.
Max Beckmann (1884–1950), der an der ersten „Neue Sachlichkeit“-Ausstellung teilgenommen hatte, stilistisch aber weit von der sonst typischen Feinmalerei der Epoche entfernt lag, gelang es vielleicht am eindrucksvollsten, diesen Zwiespalt auf den Punkt zu bringen. Seine Figuren, die in Bildern oft mit Masken und Zirkuskostümen auftreten, scheinen sich gleichermaßen zu verkleiden und zu verstecken. In seinen Selbstbildnissen – viele davon entstanden im Exil – brauchte Beckmann gar keine Maske mehr: Es reichte der eigene kalte Blick, um die eingeigelte Existenz zu vermitteln.
Anderswo beförderten die 1920er Jahre den Kult ums Klinische: „Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés, (...) Kaffee setzt den Gedanken unter Chloroform“, schrieb Walter Benjamin 1928 unter dem Titel „Poliklinik“ über das Handwerk eines Schriftstellers.
Der Maler Christian Schad (1894–1982) stellte im Folgejahr eine Operation dar, weil ihn das „fast mathematisch exakte Ineinandergreifen von Handlung und Handgreifung“ begeisterte, wie er sagte. Die Darstellung lässt sich freilich als Parabel auf die Kunstpraxis lesen: Statt durch wilden Expressionismus wird das Innerste des Menschen hier mit der chirurgischen Zange hervorgeholt.
Auch wenn mehr als 90 Jahre zwischen dem Bild und dem Heute liegen, scheinen manch aktuelle Bezüge nicht allzu fern: Auch angesichts der derzeitigen Krise klammert sich die Gesellschaft an Zahlen, an medizinische Keimfreiheit und an das digitale Versprechen universeller Berechenbarkeit. Der böse Geist, den es auszutreiben gilt, sind „Fake News“ und Verschwörungstheorien.
Im Zusammenleben wiederum stellt sich die Frage, mit welchem Gesicht wir der Welt begegnen werden, wenn die Zeit der physischen Schutzmasken vorüber ist. Die Verhaltenslehren der 1920er bargen sowohl das Potenzial der Vernunftorientierung wie auch jenes der Entmenschlichung. Sie konnten bekanntlich die totalitären Entwicklungen der 1930er nicht verhindern.
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