Der Unbarmherzige

Jim Carrey und Meryl Streep in "Rätselhafte Ereignisse", der Verfilmung von Snickets "Schauriger Geschichte von Violet, Sunny und Klaus"
Lemony Snicket: Wer hinter dem geheimnisvollen Autor steckt.

Wer sich heitere, schlichte Erzählungen mit Happy End erwartet, der ist falsch bei ihm. Lemony Snicket schreibt Kindergeschichten, die immer ins Elend führen. Oder zumindest knapp daran vorbei.

So ist das auch mit seinem neuen Kinderbuch "Dunkel". Es handelt vom kleinen Leo, der im selben Haus mit "dem Dunkel" lebt. Es wartet meist im Keller, sitzt aber auch gern hinter dem Duschvorhang, versteckt sich im Schrank und besucht Leo sogar in seinem Zimmer.

Unbarmherzig wie Snicket nun einmal ist, muss Leo damit zurechtkommen. Am Ende wird das Dunkel allerdings dann noch richtig nett.

Snicket setzt sich in "The Dark", wie das Buch im amerikanischen Original heißt, nicht zum ersten Mal mit realen Nöten junger Menschen auseinander. Allerdings tunlichst nicht mit pädagogischem Ansatz – über so etwas macht er sich gern lustig. Im Vergleich zu anderen Snicket-Büchern ist das "Dunkel" aber harmlos.

Am Ende lächelt es.

Schrecklich

Die armen Baudelaire-Geschwister hatten hingegen wenig zu lachen: Anfang dieses Jahrtausends erzählte Snicket in einer dreizehnteiligen Serie "Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus", drei Waisenkindern, denen unter keinen Umständen ein Happy End vergönnt war. Schon der erste Teil, "Der schreckliche Anfang", verhieß nichts Gutes. Die drei Pechvögel hatten zwar das eine oder andere außergewöhnliche Talent – die jüngste etwa, Baby Sunny, hat außerordentliche Bisskraft – doch nichts, was sich mit Potter’schen Zauberkräften messen könnte, weshalb dem widerlichen Graf Olaf (großartig grotesk in der Verfilmung "Rätselhafte Ereignisse": Jim Carrey), der es auf das Erbe der Geschwister abgesehen hat, nie endgültig das Handwerk gelegt wird.

Betrüblich

Nicht nur seinen Protagonisten, vor allem der Öffentlichkeit machte es der Autor dieser betrüblichen Geschichten nicht ganz so einfach wie einst Ex-Sozialhilfeempfängerin und Potter-Autorin Joanne K. Rowling mit ihrer rührenden Aufstiegs-Story.

Lemony Snickets Inszenierung ist eine ganz andere, nicht minder spannende Geschichte. Der seltsame Name, den er wahlweise auch in Anagramm-Form "Loney M. Setnick" verwendet, ist ein Pseudonym des amerikanischen Multitalents Daniel Handler, dessen Bücher – unter welchem Namen auch immer – in den USA zweistellige Millionenauflagen erzielen. Handler, 1970 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten Vaters und einer Opernsängerin in San Francisco geboren, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Musiker.

Er war u. a. Mitglied der New Yorker Band Magnetic Fields, auf deren Album "69 Love Songs" er Akkordeon spielte. Auch im Nachspann zu "Rätselhafte Ereignisse" spielt Handler/Snicket Akkordeon und singt dazu inbrünstig über ... Blutegel!

Der Unbarmherzige

Snicket umgibt sich gern mit einer geheimnisvollen Aura. In den Nachwörtern der Baudelaire-Serie sind kryptische Auskünfte wie diese zu lesen: "Lemony Snicket wurde in einer Kleinstadt geboren, deren Einwohner zu Misstrauen und Tumulten neigen. Jetzt lebt er in einer Großstadt. In seiner Freizeit sammelt er Beweise und wird von führenden Fachleuten als Experte auf diesem Gebiet angesehen."

Und stets folgt ein Tipp an den Leser: Er, Snicket, sei verpflichtet, derartig schreckliche Geschichten wie jene der glücklosen Waisenkinder aufzuschreiben. Dem Leser stehe es aber frei, dieses Buch ins Regal zurückzustellen und sich nach leichterer Lektüre umzusehen ...

Leicht sind seine Bücher vergleichsweise tatsächlich nicht. Snickets Lieblingsdisziplin: Fordere dein Publikum. Snicket-Bücher wimmeln vor literarischen Querverweisen. Das beginnt bei den Beatrix-Briefen und Widmungen an die geheimnisvolle verstorbene Geliebte – eine Reverenz an Dante – durchaus nicht alltäglich in Kinderbüchern. Und freilich die Namen der Waisenkinder, "Baudelaire", sowie des befreundeten Zwillingspaares "Isadora" und "Duncan".

Das Gute daran: Wer in diesen Namen keine französischen Dichter und amerikanischen Ausdruckstänzerinnen erkennt, hat trotzdem Freude an den schrägen Schauergeschichten.

Verachtenswert

Unter mangelndem Selbstbewusstsein dürfte der Autor mit der ungewöhnlichen Marketingstrategie nicht leiden. Bei Auftritten gibt sich Handler als Repräsentant von Snicket aus: "Wir sind einander recht ähnlich. Wir sind beide extrem gut aussehende Kerle, die gern geblümte Krawatten tragen."

Den Name Lemony Snicket verwendet Handler wegen der phonetischen Ähnlichkeit mit der Disney-Figur Jiminy Cricket, die sprechende Grille, "exakt jener Typ des moralischen, immer fröhlichen Erzählers, den ich verachte". Die Verachtung des fröhlichen Autors brachte er auch in seiner bisher nur auf Englisch erschienenen Biografie "Lemony Snicket: The Unauthorized Autobiography" zu Ausdruck. Auf deren pastellfarbenem Wende-Cover macht er sich über einschlägige Klischees lustig: "From the young ... to the Young at Heart!" ...

Snickets Alter Ego Daniel Handler hat übrigens 2013 mit dem Roman "43 Gründe, warum es aus ist" ( Hanser) eines der besten Jugendbücher vergangener Jahre geschrieben.

KURIER:

Kommentare