Der Erbschleicher muss Rinderzunge essen

Larissa Boehning, 42, lebt als Autorin und Grafikerin in Berlin
Roman "Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr": Wer sich ein Erbe erschwindelt, muss manchmal auch dafür zahlen.

Matthias ist ein Mann ohne Eigenschaften. Besser: Ein Mann ohne eigene Eigenschaften. Bei Bedarf erfindet er sich die passenden. Sein besonderes Talent ist, dass er seine Betrügereien selbst glaubt. Weil er jedem das gibt, was der möchte, und sich jeder Situation anpassen kann, liebt man ihn. Sein Talent macht ihn zum idealen Versicherungsvertreter und Heiratsschwindler.

"Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr" heißt der neue Roman der Berliner Autorin Larissa Boehning. Es ist der dritte Roman der 42-Jährigen, die bereits für ihr Debüt "Lichte Stoffe" (2007) von der Kritik gelobt wurde.

Ihre Geschichte über den Betrüger Matthias ist eine geschickt konstruierte, spannende Erzählung über die Grenzen zwischen Wahrheit und Illusion.

Boehning erzählt abwechselnd aus verschiedenen Perspektiven: Matthias’ Nachbarin, die eine kurze, heftige Affäre mit ihm hatte, berichtet in der Ich-Form vom plötzlichen Verschwinden des seltsamen Nachbarn; in der dritten Person wird von Annemarie Funk erzählt, einer todkranken Frau, die Matthias über seine Tätigkeit als Versicherungsmakler kennenlernt. Dass sie viel Geld, aber nicht mehr lange zu leben at, macht sie interessant für ihn. Bald zieht er bei ihr ein und pflegt sie, in Erwartung eines Erbes, liebevoll zu Tode. Dabei wird er jedoch von seiner Nachbarin, die ihm auf die Schliche gekommen ist, beobachtet.

Abhängigkeiten

Der Erbschleicher muss Rinderzunge essen
XX

Erzählerin Boehning schildert differenziert die gegenseitigen Abhängigkeiten einer Beziehung. Sie verteufelt ihren Protagonisten nicht, denn auch die alte Annemarie hat ihre Abgründe.

Aufgewachsen in einem süddeutschen Gasthaus, das mit einem Schlachthof verbunden war, bekocht sie ihren jungen Mitbewohner ständig mit altmodischen Fleischgerichten, für die es einen guten Magen braucht: Blutsuppe, Hirn, Leberknödel. Einziges Gemüse: Kohl, dessen Duftschwaden ständig durchs Haus ziehen. Besonders eindringlich wird ein Festmahl mit Rinderzunge geschildert, die die Köchin zerlegt, indem sie das Tranchiermesser in ihren knochigen Fingern durch die Gaumenknorpel gleiten lässt. Die Todkranke verjüngt sich förmlich beim Kochen, und man leidet mit dem Erbschleicher.

Man kann auch gut nachvollziehen, wie sehr er die Umpuschelung der Klomuschel, die rutschfeste Matte in der Badewanne und die vielen Porzellanpuppen hasst. Daneben berichtet Boehning die Geschichte der Jugend Annemaries sowie die Familienprobleme von Matthias’ Nachbarin. Das ist dann ein bisschen viel. Trotzdem: Man liest dieses Buch gern zu Ende und ist neugierig, was die Autorin künftig zu bieten hat.

KURIER-Wertung:

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