"La Traviata": Viele Verirrungen

Zu Recht bejubelt: Diana Damrau (Bild) brillierte an der Mailänder Scala als Violetta. Piotr Beczala als Alfredo kam beim Publikum weniger gut an. Die Regie von Dmitri Tscherniakow enttäuschte
Saisoneröffnung mit Verdi: Ein gigantischer Aufwand mit einem mageren Ergebnis.

Die Saisoneröffnung der Mailänder Scala, die traditionellerweise am 7. Dezember, dem Tag des Stadtheiligen Ambrosius, stattfindet, ist die eleganteste Opernpremiere des Jahres. Dass die Qualität der Couture mit jener auf der Bühne korreliert, ist aber leider nicht zwingend der Fall.

Viva Verdi“ hatte schon vor der Premiere von „La Traviata“ ein Besucher im atemberaubend schönen Theater gerufen, nachdem es im vergangenen Jahr Proteste wegen der Werkauswahl gegeben hatte. Damals war Wagners „Lohengrin“ gespielt worden – zum Auftakt des Wagner- und Verdi-Jahres.

Mordversuch

Viva Verdi“? Was bei der live in zahlreichen TV-Sendern übertragenen Premiere zu sehen und zu hören war, grenzte eher an Mordversuch mit einigen Komplizen. Aber der Reihe nach.

Auf dem Platz vor der Scala, der durch eine Hundertschaft an Polizisten großteils gesperrt war, gab es wieder die alljährlichen Proteste. Seit Silvio Berlusconi aber nicht mehr Ministerpräsident ist, wirken sie ähnlich milde wie jene gegen den Wiener Opernball.

Im Theater selbst drängen sich Fachpublikum, ahnungslose Event-Teilnehmer sowie Stars und Starlets, die bis zu 1600 Euro für eine Karte bezahlt haben. Und mittendrin Alexander Pereira, der künftige Intendant (siehe unten), mit seiner Lebensgefährtin Daniela Weisser. Dass 1859 die allererste Violetta an der Scala Enrichetta Weiser hieß, ist ein hübscher Zufall.

2014 wird Pereira es sein, der anstelle von Stéphane Lissner die Honoratioren aus der Politik wie diesmal Staatspräsident Giorgio Napolitano oder EU-Kommissionschef José Manuel Barroso durch das Gedränge begleiten wird.

"La Traviata": Viele Verirrungen

Großer Applaus, als Napolitano die königliche Loge betritt, die geschmückt ist wie der Goldene Musikvereinssaal beim Neujahrskonzert. Dann nimmt Dirigent Daniele Gatti das Mikrofon zur Hand und bittet um eine Schweigeminute für den verstorbenen Nelson Mandela.

Danach lässt er das Scala-Orchester die italienische Hymne spielen, was, freilich mit der österreichischen, bei einer Opernpremiere in Wien undenkbar wäre.

Ärgerlich

Vielleicht hätte Gatti an diesem Abend auch besser bei einem Best-of-Hymnen bleiben sollen, um sich so etwa auf die Fußball-WM in Brasilien einzugrooven. Denn genau so schwer, pathetisch, dann wieder banal, jedenfalls frei von erkennbaren Strukturen blieb seine „Traviata“-Interpretation.

Am ärgerlichsten waren die verschleppten, dann bei der einen oder anderen Cabaletta wieder absurd schnellen Tempi, mit denen er dem Werk jede musikalische Logik und Spannung nahm. Die große Germont-Arie peitschte er durch, andere Sänger ließ er verhungern.

Sein Dirigat war das größte Problem einer an Problemzonen nicht armen Aufführung. Dass Gatti überhaupt dirigierte, hatte wiederum mit einer Verzögerung in Berlin zu tun. Dort hatte nämlich, als die „Traviata“-Premiere fixiert wurde, Daniel Barenboim (Musikchef in Mailand und Berlin) noch damit gerechnet, dass die Staatsoper Unter den Linden 2013 wiedereröffnet würde und Gatti darob in Mailand den Vortritt gelassen. Barenboim selbst dirigierte zuletzt im Berliner Ausweichquartier Schillertheater „Il Trovatore“.

Man erinnerte sich in Mailand jedenfalls sehnsuchtsvoll an „Traviata“-Dirigate von Riccardo Muti, der dieses Werk zwölf Jahre lang nicht aus der Hand gegeben hatte. Als erste Saisonpremiere stand „La Traviata“ zuletzt vor 49 Jahren auf dem Programm. Damals unter der Leitung Herbert von Karajans mit Mirella Freni in der Titelpartie.

Exzellent

Diesmal durfte Diana Damrau gesanglich als Violetta brillieren. Ihr Sopran ist klar, präzise in allen Lagen und zu schönen Verzierungen fähig. Am Ende des „Sempre libera“ sang sie – im Gegensatz zu Anna Netrebko bei der Salzburger „Traviata“-Premiere 2005 – den Spitzenton, während ihn Piotr Beczala, der Alfredo, bei der Cabaletta „O mio rimorso“ verweigerte. Damrau sorgte mit „Addio del passato“ auch für den Höhepunkt des Abends und wurde zu Recht bejubelt. Ihr Kostümbildner hätte jedoch für unvorteilhafte und farblich hässliche Fetzen die Höchststrafe verdient.

Beczala kam beim Publikum weniger gut an, obwohl es zurzeit wohl keinen besseren Alfredo gibt. Mit noblem Timbre und Schmelz sowie seiner darstellerischen Hingabe besticht er – vielleicht war seine Stimme etwas müde. Kraftvoll und berührend gestaltet Željko Lučić den alten Germont, Mara Zampieri ist als Annina enorm aufgewertet, spielt aber im Prinzip mit rotem Haar die Hexe aus „Hänsel und Gretel“.

Enttäuschend

Die Regie von Dmitri Tscherniakow ist in jeder Hinsicht enttäuschend: Er scheint diesmal Personenführung mit Zwang zur Hyperaktivität zu verwechseln – es ist absurd, was die Protagonisten alles machen müssen. Er entwickelt aber keine Figuren, erzählt keinerlei Geschichte, sondern stellt konservatives Stückwerk auf die Bühne – wie aus dem „Traviata“-Klischeebuch. Das ist schade, weil er als jemand gilt, der die Dramatik im Banalen, in Alltagshandlungen sucht, und schon bedeutend bessere Arbeiten präsentiert hatte.

Gut möglich, dass der Respekt vor dieser zentralen Scala-Premiere zu groß war.

„La Traviata“ heißt „die vom Weg Abgekommene“. Diese Produktion ist eine Ansammlung von Verirrungen, obwohl es mit den Sängern sehr gute Voraussetzungen gegeben hätte.

KURIER-Wertung:

"La Traviata": Viele Verirrungen

Pressefoto…

Alexander Pereira wird sein erstes Jahr als Intendant der Mailänder Scala, wohin er nach dem Salzburger Festspielsommer 2014 wechselt, mit Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“ eröffnen.

Diese Produktion hat er noch nicht selbst geplant. Das Projekt stammt ursprünglich vom amtierenden Scala-Chef Stéphane Lissner, Pereira behält es aber bei. 2015 zeigt er dann sein erstes völlig eigenes Projekt bei der Inaugurazione (Saisoneröffnung).

Deborah Warner wird bei „Fidelio“ Regie führen, Daniel Barenboim am Pult stehen. Dieser verlässt die Scala danach als Musikdirektor. In genau einer Woche, am 16. Dezember, wird Pereira in Mailand Barenboims Nachfolger präsentieren. Es dürfte sich um den gebürtigen Mailänder Riccardo Chailly handeln. Zuletzt war auch der Name Fabio Luisi gefallen, der soll aber nie wirklich im Rennen gewesen sein.

Premieren 2013/’14

In der aktuellen Saison kommt es an der Scala noch zu folgenden Opern-Neuproduktionen: „Die Zarenbraut“ von Rimskij-Korsakow (Dirigent: Barenboim; Regie: wie bei „La Traviata“ Tscherniakow); „Les Troyens“ von Hector Berlioz (Dirigent Antonio Pappan, Regisseur David McVicar); „Elektra“ von Richard Strauss (mit Esa-Pekka Salonen am Pult; die Inszenierung von Patrice Chereau stammt aus Aix); Mozarts „Così fan tutte“ (basierend auf der Salzburger Produktion in der Regie von Claus Guth) und Rossinis „Le Comte Ory“ (Donato Renzetti als Dirigent, Laurent Pelly als Regisseur).

Die Besetzung der „Elektra“ ist mit Waltraud Meier, Evelyn Herlitzius und Adrianne Pieczonka erstklassig, in der „Così“-Premiere ist u. a. Rolando Villazon zu hören.

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Pereira präsentiert kommende Woche den Scala-Musikchef

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