"La Traviata": Die denkbar beste Fehlbesetzung

"La Traviata": Die denkbar beste Fehlbesetzung
Verdis "La Traviata" in der Staatsoper: Natalie Dessay rührte viele Premierengäste der Staatsoper zu Tränen - obwohl die Violetta gar nicht ihre Partie ist.

Immer dieses blöde Kastl-Denken!
Die Sopranistin Natalie Dessay will sich fürderhin - das hat sie zumindest vor der Premiere von Verdis "La Traviata" an der Wiener Staatsoper in Interviews betont - dem Schauspiel widmen, weil das Opernfach nicht genügend interessante Rollen für ihre Stimme biete. Wer weiß, vielleicht war, was man am Sonntag im Haus am Ring erleben konnte, sogar die letzte Premiere mit der Dessay.

Heutzutage ist das ja offenbar so: Man ist entweder Schauspieler, wenn die diesbezügliche Begabung ausreichend ist; oder man ist Sänger, wenn man sich aufs Produzieren schöner Töne versteht.

Das eine bedingt das andere anscheinend gar nicht - und es ist zutiefst traurig, dass es nur ein Entweder/Oder zu geben scheint.

Berührend

Natalie Dessay ist eine Ausnahme. Sie hat ihre stimmlich beste Zeit hinter sich. Sie war eine grandiose Olympia, eine fabelhafte Zerbinetta, eine beeindruckende Lucia, eine tolle Nachwandlerin Amina. Ihr Koloratursopran hat, einhergehend mit Stimmkrisen, an Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren, dabei aber nicht an Dramatik gewonnen. Das weiß sie selbst.

Darstellerisch ist sie jedoch eine in der Opernszene seltene Erscheinung, mitreißend und berührend. Früher hätten Komponisten für eine solche Künstlerin eigene Opern geschrieben - heute leidet sie am Betrieb. Dabei ist gerade sie beides: Sängerin und Schauspielerin. Hoffentlich bleibt es auch dabei.
Die Violetta, um endlich zur "Traviata" zu kommen, entspricht also, wenn man von den Prämissen ausgeht, nicht ihrem Fach.

Sie liegt zu tief, weshalb Dessay, etwa zu Beginn, nur schlecht hörbar ist. Auch in der Mittellage hat ihr Sopran Probleme. Oben öffnet er sich aber, wird klar, durchschlagskräftig - und erlaubt der Sängerin, in der Cabaletta am Ende des 1. Aktes sogar das hohe Es zu singen. Dieses hatte Anna Netrebko bei der legendären "Traviata"-Premiere in Salzburg nicht getan.

Dessay hat in der Stimme auch zu wenig Erotik für die Partie der Kurtisane. Und ihr Typus passt gar nicht ins Milieu der Pariser Demimonde.

Intensiv

Dennoch ist ihre Darstellung von faszinierender Intensität, großer Glaubwürdigkeit, besonders, ja einzigartig. Aufopfernd und kämpferisch macht sie die Rolle über Umwege doch zu der ihren. Dafür gebührt ihr ein großes Kompliment. Wenn schon eine Fehlbesetzung als Violetta, dann diese.

Eines der Probleme an der Produktion, die aus Aix-en-Provence an die Staatsoper übersiedelt ist, besteht jedoch darin, dass Regisseur Jean-François Sivadier wenig aus den Möglichkeiten, die ihm Dessay offeriert, macht. Sie ist erkennbar älter als ihr Geliebter Alfredo. Eine kranke, reifere Dame verzichtet auf den jungen Mann - das müsste der Geschichte eine zusätzliche Dimension verleihen. Der Altersunterschied könnte zeitgemäß, emanzipatorisch gedeutet werden - bei dieser Regie wirkt aber alles zufällig und beiläufig. Sivadier ist generell bemüht, Emotion aus dem Stück herauszunehmen, was bei Verdi ein Kapitalfehler ist.

Er stellt die Geschichte in den konstruierten Rahmen des Theaters auf dem Theater. Hunderte Male versucht, zumeist zum Gähnen!

Fad

Eine Truppe bereitet sich auf eine "Traviata"-Aufführung vor. Man weiß nie, was real und was Fiktion ist, ob gerade auf der Bühne oder dahinter gespielt wird. Übrig bleibt fades Stehtheater mit vielen unlogischen Details.

Das Bühnenbild (Alexandre de Dardel) besteht primär aus ein paar hochfahrenden Prospekten, was nicht nur wenig ästhetisch ist, sondern auch akustisch problematisch. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Produktion, ohne Dessay, im Repertoire funktioniert.

Der Rest der Besetzung ist weniger singulär: Charles Castronovo, der Alfredo, setzt schöne "Italianità" und feinen Schmelz ein, wirklich groß ist sein Tenor aber nicht. Im Gegensatz zu Dessay verzichtete er bei seiner Cabaletta auf den Spitzenton. Fabio Capitanucci ist ein solider alter Germont mit weichem, warm-timbrierten Bariton. Flora (Zoryana Kushpler), Annina (Donna Ellen), Baron Douphol (Clemens Unterreiner) und alle anderen kleineren Partien sind seriös besetzt, die Choristen von Thomas Lang gut einstudiert.

Sensibel

Erfreulich agiert das Staatsopernorchester unter Bertrand de Billy: Präzise, ausbalanciert, die auf der Bühne fehlende Dramatik auszugleichen versuchend, höchst differenziert, farbenprächtig, aber nie vordergründig, mit ungewöhnlichen, aber plausiblen Tempi. Diese "Traviata" ist musikalisch fein und sensibel gearbeitet und umgesetzt.
Dennoch stellt sich, wenn nach 40 Jahren (Regie: Otto Schenk) eine Neuproduktion dieses zentralen Werkes ins Repertoire genommen wird, die Frage: Warum gerade diese? Bei der Premiere wurde sie nicht beantwortet.

Fazit: Musikalisch gut, szenisch nicht

Das Werk: Giuseppe Verdis "La Traviata", Text von Francesco Maria Piave nach dem Schauspiel "Die Kameliendame" von Alexandre Dumas, 1853 in Venedig uraufgeführt.

Die Sänger: Solide, nicht überragend. Natalie Dessay besticht durch intensive Darstellung.

Der Dirigent:
Bertrand de Billy erzählt mit dem Staatsopernorchester, was auf der Bühne leider nicht zu sehen ist.

Die Regie:
Von Jean-François Sivadier, unlogisch, konstruiert.

KURIER-Wertung: *** von *****

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