Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

APA12949606-2 - 28052013 - VENEDIG - ITALIEN: ZU APA-TEXT KI - Ein Werk von Maria Lassnig aufgenommen am Dienstag, 28. Mai 2013, anl. der internationalen Ausstellung der Kunstbiennale Venedig. Die österreichische Künstlerin Maria Lassnig wird ihm Rahmen der Biennale mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Die 55. Kunstbiennale in Venedig findet von 1. Juni bis 24. November 2013 statt. APA-FOTO: MARIA HANDLER
"The Encyclopedic Palace" gibt mit 150 Künstlern der "Sehnsucht, alles zu sehen und alles zu wissen" nach.

Der Ausgangspunkt der Internationalen Ausstellung liegt im Hauptpavillon in den Giardini. Stilecht in der Kuppelhalle korrespondieren die Darstellungen auf den Seiten von Carl Gustav Jungs "Das rote Buch" mit den Fresken. Im gemeinsamen Ringen um das Wissen kommt dem Pavillon die Position des Psychologischen, des Imaginären und des Körperlichen zu - und er wartet dabei mit einer hohen Dichte österreichischer Positionen auf.

Goldener Löwe für Lassnig

So wird Maria Lassnig, die heuer den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk erhält, als Erkenntnissucherin mit dem Instrument ihres eigenen Körpers gewürdigt - und ihre großformatigen Gemälde, von "Du oder ich" über "Mother Nature" bis zu "Selbst mit Meerschweinchen", jenen der zweiten Lebenswerk-Preisträgerin Marisa Merz gegenübergestellt. Fast religiös anmutende Skulpturen von Walter Pichler finden sich inmitten einer umfangreichen Würdigung Rudolf Steiners, dessen Kollegin seine Zeichnungen, die er bei Vorträgen and der Tafel anfertigte, durch Aufspannen von schwarzem Papier festhielt.

Nicht weniger visionär nehmen sich die architektonischen Modellentwürfe des Wiener Versicherungsbeamten Peter Fritz aus: Der österreichische Künstler Oliver Croy fand sie in Müllsäcken verpackt im Antiquariat - hunderte kleine Häuschen, die akribisch österreichische Provinzbauten nachahmen und weiterdenken. Die Leihgabe aus dem Wien Museum umfasst 176 Modelle. Sie stehen in einer Reihe mit Christina Soulons Skizzen nach Borges' "Book of Imaginary Beings" oder den unzähligen Zustandsbeschreibungen, die etwa aus den übervollen Notizbüchern eines Carl Andre ("a 1960 sampling of the state of my mind") oder eines Shinro Otheke mit ihren oft mehr als 700 Seiten quellen. Die "Shakers" - eine christliche Sekte - hielten ihre wunderschönen filigranen Zeichnungen dagegen für Eingebungen Gottes.

Die Österreicher bei der Biennale

Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

FOTOS: Gemälde: REUTERS/Herwig Prammer Lassnig:…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Maria LassnigDu oder Ich [You or Me], 2005Oil …
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Interview Maria Lassnig
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Rudolf SteinerVarious blackboard drawings, 1923…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Walter Pichler Bewegliche Figur [Movable Figure…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Oliver Croy and Oliver ElserThe 387 Houses of Pe…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Oliver Croy and Oliver ElserThe 387 Houses of Pe…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Oliver Croy and Oliver ElserThe 387 Houses of Pe…
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Eduard Spelterini.jpg
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Nitsch Retrospektive 2013Manfred Thumberger3.jpg
Biennale verwandelt sich in ein Weltlexikon

Nitsch Foundation_01.jpg

"S.S. Hangover"

Neben den Arsenale und dem Hauptpavillon erstreckt sich der "Encyclopedic Palace" allerdings auch im Freien: Der Isländer Ragnar Kjartansson hat die "S.S. Hangover", ein Schiff mit durchgehend spielendem Bläserensemble, vor dem hinteren Teil der Arsenale in den Kanal geschickt, unmittelbar neben einem von Erik van Lieshout eingerichteten Autokino, bei dem man in den bereits dort geparkten Autos Platz nehmen und eine Interviewserie über den Zugang zu Wissen in Tansania ansehen kann.

Neben Musikbeschallung und Kinoleinwand steigt einem außerdem der Duft von Marco Paolinis Heuhaufen in die Nase. Wer ihn zwischen neu errichteten Wänden im Giardino delle Vergini entdeckt hat, hat es auch nicht mehr weit zum nächsten Landschaftsspektakel: Daniel Ortega hat einen kommunizierenden Golfplatz mit verstreuten Mikros eingerichtet. Wie viel diese Outdoor-Installationen noch mit dem Ausstellungsmotto zu tun haben, sei dahingestellt. Aber wer sich gerade durch das gesamte Weltwissen gearbeitet hat, der hat schließlich ein bisschen Sinnesfreuden verdient.

Bronzestäbe im Sonnenlicht

Am Ende stehen einfache Bronzestäbe und glitzern im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster der Arsenale dringt. "Apollos Ecstasy" nennt sich die raumfüllende Arbeit von Walter de Maria. Sie markiert einen Schlusspunkt, einen Rückzug in die Abstraktion, nachdem der Besucher der Kunstbiennale Venedig sich heuer im Hauptpavillon und in den Arsenalen durch ein wahres Weltlexikon zu schauen hatte. Die "The Encyclopedic Palace" benannte Schau, die am 1. Juni eröffnet wird, hält ihr enzyklopädisches Versprechen - und katalogisiert Körper, Artefakte, Selbstdarstellungen, Gesteinsbrocken, Wolken, Frisuren, Farben, Filme, Voodooflaggen, Schultafeln und vieles mehr.

Kurator Massimiliano Gioni streift am ersten Previewtag seiner Biennale gelassen durch die Hallen der Arsenale. Die Lagunenstadt zur Kunstsaison ist für den italienischen Shooting Star der internationalen Kunstwelt seine natürliche Umgebung. Dass "The Encyclopedic Palace" zwar bei einem italienisch-amerikanischen Künstler, Marino Auriti, seinen Anfang nimmt, dann aber einen deutlichen Schwerpunkt auf Kunst aus dem angloamerikanischen Raum setzt, wird man dem jüngsten Kurator der Biennale-Geschichte womöglich ankreiden - mangelnde inhaltliche Breite aber sicherlich nicht. In seiner Ausstellung "über die Sehnsucht, alles zu sehen und alles zu wissen", versammelt er 150 Künstler aus 37 Ländern, wobei nicht alle Künstler beruflich Künstler sind, und die Länder stets klar hinter einem Globalanspruch zurücktreten.

Blick aus dem All

Die Erde aus dem All sieht man etwa bei Steve McQueens NASA-Fotos, die er mit Glossolalia - also unverständlichen Sprachen - unterlegt hat. Luftfahrt-Pionier Eduard Spelterini zählte zu den ersten Fotografen, die die Wolken von oben ablichteten. Der Türke Yüksel Arslan führt akribische Aufzeichnungen, in denen er philosophische Abhandlungen ebenso illustriert, wie komplexe biologische Taxonomien. Andere enzyklopädische Ansprüche spielen sich im Privaten ab. Der zu Lebzeiten fast unbekannte US-Künstler Eugene von Bruenchenhein fotografierte seine Ehefrau Marie in jeder erdenklichen Pose und Stimmung. Der Nigerianer Okhai Ojeikere dokumentiert Frisuren. Animationsfilm-Pionier Stan Van Der Beek erdachte sich "Movie-Dromes", in denen man das Weltwissen filmisch komprimieren könnte. Der Brasilianer Arthur Bispodo Rosario bereitete sich in fünfzig Jahren in der psychiatrischen Anstalt mit Textilcollagen auf das jüngste Gericht vor.

Ein Raum voll Comics

Wer Kunst mit Universalanspruch zeigen will, darf mit Platz nicht knausern: Ein ganzer Raum ist dem Comiczeichner Robert Crumb und seiner Vollversion des Buches Genesis gewidmet, ein weiterer dem Bildhauer Pawel Althamer, der 80 echte Venezianer als Kunststoffstatuen nachgebaut hat, einen Durchgang dominieren Phyllida Barlows gewaltige Gesteinsbrocken. Die Besucher wandeln durch Wunder- und Dunkelkammern, durch Labyrinthe aus Zeichnungen, Notizen, Fundstücken. Man stolpert in das eine oder andere Museum im Museum. Etwa in das von Cindy Sherman kuratierte Projekt, in dem sie diverse Künstler von Rosemarie Trockel bis Carol Rama verschiedene körperliche Selbstdarstellungsformen deklinieren lässt und sie mit Opferbeigaben aus dem 17. Jahrhundert kontrastiert.

Kommentare