Steirerblut ist kein Himbeersaft und die steirische Künstlerschaft eine geballte Kraft. Mitte September versenkte Erwin Stefanie Posarnig am Stadtrand von Graz eine „Zeitkapsel“ aus Metall mit neuen Arbeiten von 28 Künstlern oder Gruppen, darunter Eva Ursprung, Max Frey, Christian Eisenberger, Markus Wilfling und G.R.A.M.
Die Aktion mit dem Titel „Styrian Power“ hatte, auch wenn es gar nicht intendiert gewesen sein sollte, etwas Bezeichnendes. Denn die steirische Kunst verschwand unter die Erde – und der „steirische herbst“ begann. Früher einmal war das Festival auch eine Leistungsschau der heimischen Szene – in Konfrontation mit der internationalen Kunst. Seit etlichen Jahren aber haben die steirischen Kunstschaffenden beim „steirischen herbst“ so gut wie nichts mehr zu bestellen.
Das Studio Asynchrome, da wie dort vertreten, bildet definitiv eine Ausnahme. Für „Paranoia TV“, in das sich der „herbst“ aufgrund der Pandemie verwandelte, durfte die Gruppe ein Plakat mit dem Titel „Wien aus dem Gedächtnis“ zeichnen. Die Frage lautete: Was bleibt, wenn man aufgrund der Beschränkungen nicht mehr reisen darf? Dem Studio Asynchrome fiel viel ein – vom Karl-Marx-Hof über den Silberpfeil bis zum 16er-Blech. Weit amüsanter ist das Gegenstück der Wiener Gruppe Gelatin über Graz – mit vielen Gösser-Schriftzügen (obwohl Göss ganz woanders, bei Leoben, liegt).
Selfie ohne Gesicht
Beide Plakate erhält man als „Give-aways“ in der Zentrale von „Paranoia TV“ in der Herrengasse. Dort liegt auch das Malbuch „Lucy ist krank“ von Roee Rosen auf, das wirklich nichts für Kinder ist (die Übersetzung des Textes besorgte Thomas Melle). Und man bekommt ein durchnummeriertes Multiple von Judy Radul: Der kreisrunde „Grazer Spiegel“ mit einem Loch in der Mitte ermöglicht mit etwas Geschick Selfies ohne das eigene Gesicht.
In der Zentrale hängt das Objekt zudem riesengroß herum – neben der Installation „Cuddle Porn“ des Russen Igor Samolet, die die Sehnsucht nach Umarmungen in Zeiten des Lockdowns thematisiert. Es gibt also, auch wenn der „herbst“ als Streamingdienst in die digitale Welt geflüchtet ist, physische Kunst.
Beim Eisernen Tor zum Beispiel steht ein „Photoautomat“, vom Briten Akinbode Akinbiyi aus Holz gezimmert. Man wirft einen Euro ein – und erhält vier SW-Passfotos. Doch nur auf einem ist das eigene Gesicht: Die anderen drei Bilder zeigen Motive der Einsamkeit und Zerstörung während des Lockdowns.
Oder: Neben der Coventrypromenade im Stadtpark stößt man auf zwei plumpe Straßenlaternen des Russen Vadim Fishkin, die sich, im Sicherheitsabstand zueinander, gegenseitig Namen von Städten oder Ländern aus der Welt der Literatur zurufen.
Chips mit Tönen
Eh nett ist auch die Soundinstallation des jordanischen Künstlers Lawrence Abu Hamdan in zwei Spar-Supermärkten: Bei verschiedenen Regalen hört man geheimnisvolle Geräusche und Dialogfetzen. Paranoia stellt sich aber nicht ein; man folgt dem Lageplan und steht dann eben vor Konsumartikeln.
Das war’s schon. Aber es gibt ja noch die Projekte des Grazer Kulturjahres 2020. Auch sie enttäuschen. Das Studio Asynchrome (schon wieder!) hat die Glasscheiben der Schlossbergbahn mit einer Spezialfolie beklebt und überlagert die Aussicht mit Zeichnungen. Georg Hartwig geht es technischer an: Er überlagert die Realität mit dystopischen Renderings.
Und die Camera Austria hat eine temporäre Außentreppe erhalten: Man muss nicht mehr durchs Kunsthaus gehen. Praktisch. Am erstaunlichsten ist aber wohl der Mursteg daneben, der aussieht, als sei er von Christo eingepackt worden. Tatsächlich wird er nur renoviert.
Für das herausragendste Zeichen sorgt das Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark: Catrin Bolt, die anlässlich der Novemberpogrome 1938 in Graz ein ergreifendes Mahnmal mit Lauftext realisiert hatte, bot u. a. auf willhaben.at an, gratis einen EU-Grenzzaun zu errichten. Er steht bis 24. 10. vor dem Grundstück des Ehepaars Peter und Conny Gleis und schützt die Obstbäume. In der Zwerggasse – nomen es omen – ist dieser sechs Meter hohe Zaun natürlich total überdimensioniert. In seiner Absurdität jagt er dem Betrachter den kalten Schauer über den Rücken.
An dieser Manifestation der Macht muss jeder verzweifeln.
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