Der steirische herbst also wurde, dem Anschein nach, ein Fernsehsender. Und das Team tut alles dazu, diesen Eindruck zu untermauern.
Die ausgefeilte Inszenierung beginnt mit dem fernsehtestbildbunten Corporate Design, entwickelt vom 2005 in Ljubljana gegründeten Kollektiv Grupa Ee. Es erinnert ein wenig an das Cover bzw. die Ästhetik des U2-Albums „Zooropa“, das parallel zu „Zoo TV“ erschien. Und es zieht sich variantenreich über alle Werbemittel, alle Plakate, Folder, Klappkarten und Merchandising-Produkte der Fernsehanstalt „Paranoia TV“ – inklusive Kaffeehäferl und einem scheckkartengroßen Kartonplättchen mit 15 zweckfreien, aber coolen Mini-Stickern.
Durchgestylt ist auch die Zentrale von „Paranoia TV“, das ehemalige Schuhgeschäft Spitz in der Herrengasse. Man stößt dort unter anderem auf Türen zu drei „Studios“. Das Betreten ist streng untersagt. Denn immer wieder leuchtet über einem der Eingänge das Schild „ON AIR“ auf. Selbst der Aufseher weiß nicht, was sich dahinter abspielt. Das ist amüsant kafkaesk.
Unmittelbar davor döst in einem Monitor ein Sigmund-Freud-Avatar. Er würde, heißt es, wie Siri funktionieren: Man müsse nur „Hey Siggi!“ rufen – und könne sogleich mit dem klugen Kopf in Dialog treten. Leider war Siggi derrisch; mit den Begriffen „Berggasse“ und „Couch“ konnte er gar nichts anfangen. Zu „Anna Freud“ fiel ihm bloß ein Gebrabbel mit dem Wort „Analyse“ein.
Die Spielerei macht ganz deutlich: Die Künstler haben nie die Ressourcen und auch nicht den Impetus, es mit der Kreativ- und Unterhaltungsindustrie aufzunehmen. Ihre Produkte äffen mitunter nur nach, und sie wirken oft selbstgestrickt. Das gilt natürlich auch für das auf „Paranoia TV“ ausgestrahlte Programm, das unter anderem „Serien“ und „Filmpremieren“ anbietet.
Am Donnerstag startete der Betrieb offiziell. Für 12 Uhr war ein „Artist Talk“ der Intendantin mit Ahmet Öğüt angekündigt, dessen Bewegtbild-Collage „Artworks Made at Home“ zu sehen ist. Doch Degot erschien nicht. Sie redete mit dem Künstler via Zoom, projiziert auf einen großen Bildschirm. War das live? Oder aufgezeichnet? Wenig später konnte man der Intendantin zufällig auf der Straße begegnen.
Um 17 Uhr schließlich fand die offizielle Eröffnung statt – für eine auserwählte, also exklusive Schar von Politikern (Kulturminister Werner Kogler kam kurzfristig doch nicht), Künstlern, Kulturmanagern und Journalisten auf dem Vorplatz des Orpheums. Und Degot las ihre Rede vom Balkon aus. Für alle jene, die wegen der Sicherheitsmaßnahmen nicht hier sein könnten, würde diese Rede, so hieß es, auf 99 Bildschirmen in der ganzen Stadt übertragen werden.
Doch auch das war ein Fake. „Wir haben Sie in die Irre geführt“, meinte die Intendantin. Denn es gab keine Live-Übertragung.
Aber sehr wohl eine Live-Sendung. Beziehungsweise: Neben der Nachrichtensprecherin war das Insert „LIVE“ zu erkennen. Sie berichtete über den Avatar Siggi, das Ampelphasen-Chaos – und versprach eine Live-Schaltung in die Hofburg zur Rede der Intendantin. Ja, diese Spielerei war ganz amüsant.
Zumal alles Lug und Trug ist. Denn es gibt keinen TV-Sender. Der steirische herbst streamt bloß: Man muss sich die Paranoia-App aufs Handy laden – und kann sich diverse Künstler-Videos anschauen. Darunter auch die Nachrichtensendung mit der Rede.
In dieser behandelt die Intendantin das Problem von Inklusion und Exklusion – und damit der Ausgrenzung: Österreich sei tolerant gegenüber Schwulen und „Behinderten“, arbeitende Frauen und zeitgenössische Kunst würden unterstützt. Aber immer gebe es „die normative weiße, deutschsprachige, patriarchalische Familie“ – und damit eine sanfte Ausgrenzungsgewalt. Inklusion und Exklusion war übrigens das Schwerpunktthema des Festivals 1997.
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