"Kunst gibt dir den Knacker": Jonathan Meese im Interview
Am 12. Mai 1921 wurde Joseph Beuys geboren. Sein Landsmann Jonathan Meese gedenkt seiner unter dem Titel „1000 Jahre Boys“ mit einer „Online-Geburtstagsparty“, die ab 19.30 aus dem Volkstheater gestreamt wird.
Der KURIER traf den charismatischen „Gesamtkunstwerker“, ein Duracell-Häschen auf Speed, in der Galerie Krinzinger. Dort hat ihm Thomas Krinzinger eine umfängliche Personale gewidmet – als Ergänzung nicht zur Beuys-Performance, sondern zu Meeses Lolita-Inszenierung, die eigentlich schon zu sehen gewesen wäre, hätte die Pandemie nicht alle Pläne über den Haufen geworfen.
Meese, 1970 geboren, lebte die ersten drei Jahre mit seinen Eltern und Geschwistern in Japan. So kommt es, dass er, wenn er seine überbordende Philosophie des Visionären darlegt, sagt: „Ich fühle mich als Samurai der Kunst.“
KURIER: Auf der Website des Volkstheaters erfährt man bloß, dass nicht nur der 100., sondern sogar der 1000. Geburtstag von Beuys gefeiert werde. Was konkret erwartet uns?
Jonathan Meese: Ich möchte ihn befreien von jenen „Boys“, die in ihm gesteckt haben, aber nicht so wichtig sind: der politische Beuys, der religiöse Beuys. Die brauchen wir nicht. Wir brauchen den Beuys der Kunst, und den müssen wir rausschälen. Wir müssen den echten, totalen Beuys der Kunst wieder sichtbar machen.
Also die gesamte Rudolf-Steiner-Chose muss weg?
Ja, die muss weg! Die Anthroposophie hat ihn zwar beeinflusst. Aber sie ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass er sich davon emanzipiert hat. Und Beuys auf die grüne Partei oder die Friedensbewegung zu reduzieren: Auch damit tut man ihm keinen Gefallen! Wenn er diese Säuselsprache des Religiösen oder die geschwätzige Sprache des Politischen benutzt hat, war er auf Stimmenfang. Und das hat mit Kunst nix zu tun. Kunst ist die Entlassung des Menschen in dessen eigene Welt. Natürlich war Beuys ein Kind seiner Zeit. Damals waren Gurus in. Aber heute? Nein danke! Bitte keine Gurus mehr!
Auch Sie sind doch ein Guru!
Ich seh‘ nur so aus und tu manchmal so, um Gurus durch den Kakao zu ziehen. Man muss schon die politische und die religiöse Sprache benutzen, um zu zeigen, wie hohl etwas ist. Eine hohle religiöse oder politische Nuss muss man erst knacken, um zu erkennen, dass da nichts drin ist. Und die Kunst gibt dir den Knacker dazu.
Hat nicht auch Beuys diesen Knacker eingesetzt?
Er wollte eine bessere Politik zu erzeugen. Aber das konnte er nicht als Künstler. Denn die Sprache der Kunst ist eine überpolitische. Kunst ist das, was überlebt. Politik ist das, was vergeht. Politik und Religion haben ein Zeitfenster, Kunst ist überzeitlich. Kunst überlebt immer! Auch jeden politischen Müll! Beuys jedoch wollte auch als Politiker gefeiert werden – und das geht eben nicht. Und man macht in der Kunst nicht – wie mit den 7000 Eichen, die er pflanzen ließ – Mitmach-Theater. Man züchtet keine Claqueure! Ich mache mich mit dem Publikum nicht gemein!
Was ist dann das Bedeutende an Beuys? Sein Satz, dass jeder Mensch ein Künstler ist?
Nee! Da hätte er sagen müssen: Jeder nichtideologische Mensch ist ein Künstler. Aber natürlich meinte er das Kind in uns. Oder dass jedes Kind ein Künstler ist. Oder jedes Tier. Da kann ich ihm nur zustimmen. Denn jeder hat das Potenzial, Künstler zu sein. Das ist klar.
Was noch?
Er hat für die Kunst gebrannt. Er war für die totale Freiheit der Kunst! Alles ist erlaubt, jedes Material möglich. Auch das Gesamtkunstwerk hat er schon erwähnt. Er dachte nur, dass es etwas mit Politik und Religion zu tun hat. Er hätte jedoch zeigen müssen, wie kunstlos Politik und Religion grundsätzlich sind. Politik und Kunst schließen sich komplett aus. In dem Moment, in dem ich mich als Künstler politisch betätige, bin ich aufgefressen, von der Politik absorbiert.
Was Sie sagen, ist doch auch Politik.
Nein, das ist jenseits der Politik! Ich bin ein Brückenbauer – von Kunst zu Kunst, von Bayreuth zum Volkstheater, aber ich mache keine Brücke von der Galerie hier zu einem politischen Parlament. Beuys wollte noch Zugeständnisse machen. Ich bin nett, aber ich mache keine Konzessionen. Ich vermische nicht Kunst mit Realität.
Sie gehen mit Beuys hart ins Gericht.
Ich will den kontroversen Beuys haben. Wenn wir lobhudeln, spielt er in zehn Jahren keine Rolle mehr. Wir können Leute weglobhudeln. Das lehne ich ab. Ich gieße daher immer Öl ins Feuer. Denn das macht die Sache interessant. Deshalb bin auch so sauer auf Bayreuth. Denn die wollen Richard Wagner weichspülen.
Sie wurden zumindest eingeladen, 2016 den „Parsifal“ zu inszenieren.
Schon. Sie hatten mir eine Carte blanche gegeben. Ich hätte den geilen Gesamtkunstwerker hochgeholt, der das Realpolitische und das Religiöse durch Kunst ersetzen wollte. Aber dann haben sie mich doch nicht machen lassen.
Sie hatten Angst vor der eigenen Courage.
Genau so ist es.
Auch Sie wollen auch ein Gesamtkunstwerker sein?
Ich bin auch ein Gesamtkunstwerker!
Aber nicht jeder ist in allen Disziplinen gut. Wo ist Ihre Schwachstelle?
Wenn man etwas im Namen der Kunst macht, ist man immer spitze! Als Formel-1-Rennfahrer würde ich ganz hinten liegen, aber trotzdem gewinnen. Weil ich will, dass das Spiel, also das Rennen, gewinnt. Ich will nicht selber gewinnen. Sondern die Kunst muss gewinnen. Und wenn man so denkt, kann man alles machen! Es ist wie beim Roulette: Man muss auf die Bank setzen – und nicht auf sich selbst. Das Problem ist immer nur, dass die Leute selber gewinnen wollen. Wir denken limitiert und limitierend. Wir müssen anders denken! Alles ist erlaubt, was Kunst ist!
Sicher?
Kunst ist das Tollste! Die Kunst gibt dir die Eigenverantwortung zurück. Sie sagt dir: Du musst dich ändern! Und du kannst Dinge ändern! Mit Kunst kann man tatsächlich alles verändern, mit Politik und Religion eben nicht. Religion und Politik sind status quo oder Rückschritt.
Das ist doch bloßes Wunschdenken!
Macht ja nix! Wir brauchen den Traum, die Sehnsucht! Das macht uns groß! Wir brauchen das Buch, das uns in fremde Welten führt!
Es ist wichtig, das Kind in sich lebendig zu halten. Ist Kunstmachen daher wie Legospielen?
Es geht noch darüber hinaus: Man verflüssigt die Legosteine – und macht daraus Holz. Also man denkt es ganz anders. Alles ist Spielzeug. Ganz Wien ist für die Kunst Spielzeug!
Ihre Mutter meint, Sie seien ein Visionär.
Wer keine Vision hat, muss Politiker werden. Wer eine Vision hat, macht Räume auf. Und jedes Kind hat eine Vision, einen Traum, eine Sehnsucht, irgendwas erreichen wollen, was vielleicht auch gar nicht möglich ist. Aber ohne das kommen wir nicht weiter! Wir müssen das fördern! Wir müssen uns allen immer wieder sagen: Visionen haben! Irgendwas Neues in Angriff nehmen! Sich selbst überraschen! Von sich absehen! Das Unmögliche möglich machen!
Ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler, Franz Vranitzky, soll gesagt haben: „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt.“
Helmut Schmidt hat es so ähnlich formuliert. Nein, jemand, der das sagt, muss zum Arzt! Weil er uns nichts für die Zukunft anzubieten hat. Und das ist armselig! Das ist ein Armutszeugnis, wenn man sagt, dass es keine Zukunft gibt. Wenn man sagt: Es darf nur passieren, was es schon gab, dann sind wir im Teufelskreis des Horrors! Zukunft basiert aber auf der Vision, dass etwas Neues passieren kann und darf.
Man muss die Symbolfiguren Lolita und Dr. Mabuse, an denen Jonathan Meese seine aktuelle Werkserie aufhängt, nicht restlos verstehen und deuten, um Zugang zu seiner Kunst zu finden: Die Figur Lolita kommt im Werk des Deutschen immer wieder vor und verkörpert die Verführung, Mabuse führt eine Reihe von Film- und Theaterbösewichten fort, die Meese in ihrem Grenzgängertum zwischen Genie und Wahnsinn faszinieren.
Die Frage ist aber vielmehr, ob das Berserkerhafte, Verspielte und Überbordende von Meeses Gesamt-Kunst-Denken auch in einer haltbaren Form – einem Gemälde, einer Plastik – konserviert werden kann. Und die Ausstellung „Die Dr. Mabusenlolita (Zwischen Abstraktion und Wahn)“ in der Galerie Krinzinger zeigt, dass es geht. Denn Meese weiß bei all seiner scheinbaren Sorglosigkeit genau, was ein Bild braucht – seine teils geschütteten, teils gemalten und mit Silikonmasse oder anderen Materialien bearbeiteten Leinwände haben immer ein Gravitationszentrum, ziehen an und strahlen aus.
In der Wiener Galerie wird die Eigendynamik noch durch eine sorgfältige Präsentation unterstrichen, die Bilder, Objekte und einen Gartenpavillon zu stimmigen Zellen gruppiert. Es lohnt sich daher, die Schau in ihrer Gesamtheit zu sehen, statt sich nur anhand von Einzelwerken ein Urteil zu bilden.
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