Kulturelles Erbe: Was Museen im Ernstfall retten
Die National Gallery in Washington spricht von einer „Liste für den Dritten Weltkrieg“. Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder nennt es eine „Triage von Kunstwerken“. Andere Museumsprofis nutzen den Begriff der „Grab List“: Es sind Aufstellungen jener Sammlungsstücke, die im absoluten Notfall geschnappt und aus den Ausstellungsräumen oder den Depots mitgenommen werden sollen. Gemessen an den tausenden Objekten, die die Häuser bewahren, sind es verschwindend wenige Stücke.
Es ist ein Thema, an das niemand in der Museumswelt gerne denkt – und an das gleichzeitig alle denken müssen. Denn dass das kulturelle Erbe nirgends zu hundert Prozent gegen die Elemente geschützt ist, ist ein Faktum. Katastrophale Ereignisse, teils in Zusammenhang mit dem Klimawandel, haben es zuletzt nur bewusster gemacht (siehe Kasten unten).
Wert versus Format
„Von den Sammlungsverantwortlichen wurde festgelegt, welche Objekte in einem Ernstfall mit oberster Priorität zu evakuieren sind“, bestätigt Felia Brugger, Referentin für Kulturgutschutz im Kunsthistorischen Museum (KHM). „Diese Listen gibt es sowohl für Objekte in den Ausstellungen als auch für deponierte Objekte. Sie sind tagesaktuell.“
Die Einschätzung, was im absoluten Notfall schützenswert ist, ist schwierig: In den Stellungnahmen, die der KURIER von mehreren großen österreichischen Museen einholte, stimmen die Fachleute darin überein, dass der kulturhistorische Wert und die Einmaligkeit eines Objekts höher als der materielle Wert gewichtet wird. „Für eine reale Evakuierungssituation sind aber auch ganz praktische Kriterien entscheidend, etwa dass ein Objekt von zwei Personen getragen werden kann und durch den Türrahmen passt“, gibt KHM-Expertin Brugger zu bedenken.
Die Länge einer Rettungsliste sei auch nach dem Interventionszeitraum gestaffelt, der zur Verfügung stehe, erklärt Albertina-Chef Klaus Albrecht Schröder dem KURIER. „Beträgt der Zeitraum nur 10 oder 15 Minuten, kann es sein, dass nur 5, 6 Objekte gerettet werden.“
Weil im Ernstfall jede Minute zähle, sind in Ausstellungsräumen auch „Notfallkoffer“ versteckt, sagt Schröder. Denn es ist vorgekommen, dass Besucher mit Säure, Farbe oder Messern auf Werke losgehen: In diesem Fall sollen Restauratoren nicht erst mühsam Material herbeischaffen müssen.
„Kuss“ hat Vorrang
Welche Objekte genau auf den jeweiligen Prioritätslisten stehen, geben die Museen eher ungern preis. Doch natürlich habe etwa Klimts „Kuss“ „bei einer möglichen Evakuierung Top-Priorität“, heißt es aus dem Belvedere. Als dort 2017 eine neue Geschäftsführung antrat, bemängelte diese Defizite in der Brandschutzanlage des barocken Palais. Diese Beanstandungen seien inzwischen behoben, heißt es auf Nachfrage, auch die derzeit laufende Renovierung des Unteren Belvedere folge „einem aktualisierten Brandschutzkonzept“.
Feuer und Wasser bleiben die größten Gefahrenquellen für Museumsbestände – in besonderem Maß in der Albertina mit ihrer weltweit herausragenden Grafiksammlung, aber auch in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) mit ihrem Dokumentenschatz, der etwa die „Goldene Bulle“, eines der wichtigsten Rechtsdokumente des Heiligen Römischen Reiches, oder eine einmalige Sammlung 180.000 antiker Papyrus-Dokumente umfasst.
Ein Brand kann hier nicht mit Wasser gelöscht werden – das würde den Schaden noch mehren. Im Zentraldepot der Albertina kann deswegen etwa ein Gasgemisch eingeleitet werden, das dem Brand Sauerstoff entzieht.
Lehren aus dem Leck
Auch aus dem Jahr 2009 – damals war nach Starkregen Wasser durch ein Leck in das fast neue Zentraldepot eingedrungen – habe die Albertina Lehren gezogen, erklärt Direktor Schröder. Da ein Roboter-System die Bestände nach einem Zufallsprinzip ordnet, wusste man 2009 nach einem Stromausfall zunächst nicht, wo sich etwa der Dürer-Hase befand. Das sei jetzt anders: Die Top-Preziosen bewohnen ein Spezialdepot, das von zwei Seiten zugänglich ist und im Notfall in 10 Minuten geleert werden könne, so Schröder. Im Hauptdepot seien priorisierte Werke in Greifhöhe gelagert und grün markiert: „Die Leute, die im Notfall evakuieren, wissen nicht, was sie nehmen, aber sie nehmen die wichtigsten Werke.“
Nur eine der befragten Institutionen gab an, sich bewusst gegen eine Prioritätenliste entschieden zu haben: Das Technische Museum Wien setzt eher auf „flexible Interventionsketten für unterschiedliche Szenarien“, heißt es. Oft sei es einfacher, zu restaurieren als zu evakuieren. „Gleichzeitig sind unsere Objekte vergleichsweise resilient – man denke an die Dampflok 12.10 oder den Stahlschmelztiegel“, erklärt eine Sprecherin. Das letztgenannte Objekt – ein acht Meter hohes, 120 Tonnen schweres Zeugnis des Linz-Donawitz-Verfahrens zur Stahlerzeugung – würde vermutlich noch stehen, wenn sonst alles einstürzt. Und es besteht Grund zur Hoffnung, dass es nicht so weit kommt.
Dass historische Gebäude, die Kunstschätze beherbergen, in Brand geraten, kommt immer wieder vor. In Wien ist das Feuer in der Hofburg 1992 in Erinnerung. 2017 löste ein Blitzeinschlag eine bedenkliche Situation im Dachgeschoß der Uffizien in Florenz aus. Der Brand des Nationalmuseums in Rio de Janeiro 2018 vernichtete fast die gesamte Sammlung, auch der Feuerkatastrophe von Notre-Dame 2019 fielen wertvolle Gegenstände zum Opfer.
Waren diese Ereignisse nicht direkt mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen, so waren es Waldbrände, die 2019 und 2020 nahe ans Getty Museum in Los Angeles heranreichten, oder das Hochwasser, das 2021 das Depot des Stadtmuseums in Ahrweiler/D wegspülte, sehr wohl. Häufigere Starkregenereignisse sind eine Herausforderung, das Naturhistorische Museum (NHM) erforscht zudem, wie sich der Klimawandel auf die Gefahr des Schädlingsbefalls auswirkt. Auch Hitzewellen erfordern intensiveres Gegensteuern mithilfe der Haustechnik – was oft wieder zulasten der Öko-Bilanz der Museen geht.
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