Durch die Brille
Aber trägt die „erweiterte Realität“, die man durch die Virtual-Reality-Brille wahrnimmt, wesentlich zu neuen Erkenntnissen von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel bei? Nein. Tut sich auf der Bühne Erhellendes, wenn man die Brille abnimmt? Schon gar nicht. Daher wäre es ein Leichtes, diese Aufführung zu verreißen und „Parsifal“ irgendwo zwischen „Mario Kart“ und „Donkey Kong“ zu archivieren. Allerdings ist den Bayreuther Festspielen ihr Mut, eine solche Produktion zu riskieren, hoch anzurechnen. Und wenn man sich näher darauf einlässt, ist die Inszenierung des Amerikaners Jay Scheib durchaus ein Beitrag zum Wagner’schen Gesamtkunstwerk – und eine Abrechnung mit jenen, die alles haben wollen, wie es immer schon war.
Nur 330 von knapp 2.000 Besuchern können „Parsifal“ so erleben, wie es Scheib intendiert hat, also mit cooler heißer Brille. Mehr als 330 wären zu teuer gewesen. Doch vielleicht steckt auch Kalkül dahinter: Jene, die „Parsifal“ ohne Schnickschnack sehen wollen, können Oper wie vor Jahrzehnten konsumieren. Und jene, die etwas ausprobieren wollen, zahlen einen Aufpreis für die Sitze mit Brille. In Relation wird das sogar passen zu den Verhältnissen innerhalb der Opern-Community, was Traditionalismus und Innovationsfreude betrifft.
Bienen und Blumen
Aber was sieht man nun wirklich mit dieser Brille? Zunächst Sterne, dann Glühwürmchen, dann größere Tiere, Vögel, Schlangen, einen Fuchs, dann Blumen, viele Blumen, dann Waffen, Plastikmüll, Blut, Kometen et cetera, alles ständig in Bewegung. Tausende Assoziationen, die Scheib in jahrelanger Arbeit mit seinen Studenten am MIT (Massachusetts Institute of Technology) programmiert hat. Religiöse Symbole, von der Schlange als Urbild der Sünde bis zu Dornen. Und immer wieder Bäume, die teilweise die Sicht auf die Protagonisten behindern – die Kussszene zwischen Kundry und Parsifal sieht man kaum, weil sich ein Stamm dazwischen drängt. Zum Baum wird hier die Zeit.
Man ist selbst Teil des Geschehens, Bienen fliegen auf einen zu, Speere treffen einen fast im Auge, wohin man schaut, also auch abseits der Bühne, wird augmentiert.
Es dauert, bis man sich an dieses Dauerfeuer gewöhnt. Im zweiten Aufzug jedoch, in Klingsors Zaubergarten, kann man so richtig staunen über die Blütenpracht, die an den Garten der Villa Rufolo erinnert, wo Wagner die Inspiration für seine Blumenmädchen fand.
Natürlich gibt es auch Interpretation: Etwa, dass Religion gefährlich ist und Fanatismus zu Krieg führt; dass Gurnemanz doch nicht nur ein braver Erzähler ist, sondern auch ein sexuelles Wesen; und dass die Erlösung am Ende eine Lüge ist, weil der Gral, diesmal ein großer Stein, zerbricht und Krieg allzu verlockend ist.
Wenig Spiel, Topgesang
Die Computer-Spielereien haben nebenbei für die Sänger einen Vorteil: Sie müssen auf der Bühne darstellerisch nur wenig machen. Die meiste Zeit wird weihfestspielmäßig gestanden, Action kommt ja aus der Brille. Ob all das junges Publikum nachhaltig anzieht oder bestehendes längerfristig bereichert? Wer weiß. Aber es nicht auszuprobieren, ist auch keine Lösung. Und zu „Parsifal“, diesem letzten Bühnenwerk von Wagner, das der Welt ohnehin entrückt ist, passt ein solcher Zugang wohl am besten.
Gesungen wird auf höchstem Niveau. Am allerbesten von Elina Garanča als Kundry: mit enormer Dramatik, stets schön intonierend, mit einer gewaltigen Ausdruckspalette. Diese Partie wird zur Zeit niemand besser gestalten als Garanča bei ihrem Bayreuth-Debüt. Sie durfte am Ende als Letzte auf die Bühne und ihren Applaus abholen.
Andreas Schager ist ein fabelhafter Parsifal, der allerdings auch in der Rolle des reinen Toren stets ein bisschen nach Siegfried oder Tristan klingt. Soll heißen, dass er genial ist, wenn er forciert und dass die lyrischen Passagen etwas unterbelichtet bleiben.
Georg Zeppenfeld hatte als Gurnemanz voller Poesie kräftemäßig nicht seinen allerbesten Tag – und ist dennoch eine Topbesetzung. Derek Welton ist ein schön phrasierender Amfortas, ebenso wie Jordan Shanahan als Klingsor. Die Blumenmädchen sind nur solide besetzt, Tobias Kehrer ist ein guter Titurel.
Pablo Heras-Casado steigert sich am Pult des klanglich exemplarischen Festspielorchesters im Verlauf des langen Abends. Der erste Aufzug ist noch nicht sehr ausbalanciert und recht emotionsarm. Ab dem zweiten Aufzug wird dieser „Parsifal“ aber auch musikalisch zum Fest. Wenn man genau hinhört und sich nicht von den Eindrücken durch die Brille zu sehr ablenken lässt.
Viel Applaus für alle auf der Bühne und im Graben, Buhs für die Regie. Ob von Brillenträgern oder dem großen Rest, das sagt sich nicht.
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