Konstantin Wecker: "Die Linke hat unglaublich versagt"

'In meiner Situation ist man es gewöhnt, angegriffen zu werden.'
Immer noch besteht der bald 70-jährige Liedermacher darauf, ein Anarchist zu sein. Wecker über die Eitelkeit der 68er, die Anbiederungen der Sozialdemokratie und welchen Anfeindungen er in den sozialen Netzwerken ausgesetzt ist.

Es ist kalt. Er spielt sich warm. In Schal und Gilet. Vom Scheinwerferlicht geblendet, versucht er den Blick in den leeren Saal, dessen Charmelosigkeit sich widerstandslos einfügt in die Verlassenheit des Rieder Messegeländes. Am Flügel beim Soundcheck, der viel zu spät beginnt, weil der Wecker tourt. Meran, Ried, Wien, Ybbs, Dresden.

Das Tippen gegen das Mikrofon verrät, Konstantin Wecker will etwas vom Tonmeister: "Gib mir einen Furz mehr in der Mitte". Dann greift er in die Tasten, unterbricht, um in seiner Liedermappe zu blättern. Ein Schlag mit flacher Hand beendet die Suche. "Da ist er, der Willy." Der Willy. Jene Ballade, die Konstantin Wecker 1977 berühmt machen sollte, die Hommage an seinen von Rechtsradikalen erschlagenen Freund.

Willy, warn ma bloß weggfahrn in da Fruah, I hätt di doch no braucht, wir alle brauchen doch solche, wia du oana bist! Gestern habns an Willy daschlogn, und heit, und heit und heit werd a begrob’n.

Mit dem Willy wird der 69-Jährige den Abend beginnen, später das Publikum in der prallvollen Halle beruhigen: "Der Willy lebt. Ihr könnt ihn sogar besichtigen. Er verkauft draußen am Merchandising-Stand." Hörbares Schmunzeln im Saal.

Noch vor dem Konzert ist alles anders. Im Interview bettet Wecker das Thema in die notwendige Ernsthaftigkeit.

KURIER: Warum beginnen Sie das Konzert mit einem 40 Jahre alten Lied?

Konstantin Wecker: Dass ich jetzt mit dem Willy anfang’, hat natürlich eine gewisse Note. Anders ist heute, dass dieses Gedankengut von den Altnazis, die da beim Willy in der Kneipe waren, heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Früher waren das Randerscheinungen, die wir bekämpfen wollten.

Und jetzt?

Jetzt versucht man, eine intellektuelle Hoheit daraus zu machen. Und zwar eine rechte, konservative, völkische Gedankenhoheit.

Wer trägt Ihrer Meinung nach die Verantwortung dafür?

Schon vor 10, 15 Jahren hat die gesamte europäische Sozialdemokratie versagt. Alle haben sich angebiedert im Schröder’schen Sinne an die Neoliberalen, an einen Finanzkapitalismus, der völlig durchgedreht ist. Eine Anbiederung, die so grausam ist, dass man jede Sicherung, die man früher in einem Sozialstaat hatte, fallen lässt. Du bist mittlerweile kein Arbeiter mehr, der mit anderen das Gefühl hat, eine Macht oder Genossenschaft zu bilden. Du bist ein Leiharbeiter. Das Wort sagt schon alles. Du bist nur noch geliehen zur Arbeit, darfst dich als Arbeiter nicht mehr vollwertig fühlen, in einer Gesellschaft, die nur noch ein paar Prozent sehr reicher Menschen bedient. Wenn einer Hartz IV empfängt und der Meinung ist, in der Gesellschaft eigentlich der letzte Dreck zu sein, dann hat er wenigstens die Hoffnung, dass er durch das Nationalistische jemand ist.

Wäre es nicht auch Aufgabe der Linken gewesen, dagegenzusteuern?

Die Linke hat unglaublich versagt. Zum Teil war die Linke auch wirklich zu arrogant, intellektuell arrogant. Ich habe das miterlebt, wie wir 68er uns Anfang der 1980er-Jahre in unsäglicher Eitelkeit zerstritten haben. Meine Bühne ist immer gestürmt worden, weil ich mich keiner Ideologie angeschlossen habe. Da kamen die Trotzkisten, die Marxisten, die KP, jeder war toller als der andere, wusste wie die Welt gerettet wird. So toll die 68er- und die Hippie-Bewegung auch war, es hat dieser 68er-Revolution in Europa an Zärtlichkeit gefehlt.

Zielscheibe

Zärtlich bleibt Wecker in seinen Liebesliedern wie "Liebeslied im alten Stil" oder "Ich liebe diese Hure". Selbstironisch wird der Münchner, wenn er dem Publikum vom Gefängnisaufenthalt in Stadelheim (als Jugendlicher mit einem Freund die Kasse der Rennbahn in München-Riem knackte) erzählt. Es sollte nicht sein letzter bleiben – Wecker saß 1995 wegen Kokainkonsums in U-Haft. Die Anfeindungen von damals sind auch heute noch Munition, wenn es um den verbalen Beschuss seiner Weltanschauung geht. Mit Aussagen und Liedzeilen wie Ich habe einen Traum, wir öffnen die Grenzen und lassen alle herein, alle die fliehen vor Hunger und Mord und wir lassen keinen allein macht er sich angreifbar und zum linken Provokateur.

Fühlen Sie sich in der Realität und in den sozialen Medien angegriffen?

Fühlen is guat: Das ist ganz offensichtlich. In meiner Situation ist man es gewöhnt, angegriffen zu werden. Nach meiner Verhaftung habe ich halt meine 50 oder 100 Briefe bekommen von ganz eindeutig rechtsradikalen Nazis. Und wie ich dann noch eine blonde Frau geheiratet habe, waren sie stocksauer. Das war’s. Aber in dieser gebündelten Form, in dieser Intensität der sozialen Medien ist viel mehr möglich geworden. In den ersten vier Stunden kommen auch geg-nerische, aber vernünftige Kommentare. Danach eröffnen die Feinde ihr Netzwerk. Obwohl zwei Leute in meinem Sinne zum Löschen von Kommentaren beauftragt sind, kommen sie nicht nach. Unterschiedliche Meinungen? Gerne, aber nicht diesen rassistischen Rotz, den will ich nicht stehen lassen.

Lesen Sie alle Kommentare?

Vor einem Jahr war ich das noch nicht gewohnt, hat mich das noch geschmerzt. Doch mein Sohn Tamino sagte mit seinen 17 Jahren: Papa, schau doch mal, du hast oft 10.000 Likes und dagegen nur 100 bis 150 gehässige Kommentare. Du musst das Verhältnis anschauen.

Zerbrechlichkeit

Wecker selbst musste, wie er sagt, 60 Jahre alt werden, um die Selbsterkenntnis zu erlangen, ein von Schwermut geprägter Mensch zu sein. Also nicht immer "der Wecker, der immer gut drauf, immer agil und aktiv ist. Der Lieder wie ,Genug ist nicht genug‘ und ,Wer nicht genießt ist ungenießbar‘ geschrieben hat". Die "eigene Zerbrechlichkeit" habe er sich nur in seinen Gedichten und Liedern zugestanden, wie er jetzt weiß. Dazu gehört auch jenes, das er nur in Österreich und Bayern spielen kann, "wei mi sunst koaner versteht".

Fangt mi wirklich koana auf, hat denn koaner mehr a Herz frei?

Durch sein Schreiben kam er sich laut Selbstdiagnose besser auf die Schliche als durch jede Psychoanalyse. Und durch seine heute 17- und 19-jährigen Söhne, über die er spricht und die er besingt und sich dabei die Frage stellt: Erziehen zu was? Zu Ehrgeiz zu Gier? Zum Chef im richtigen Lager? Ihr wisst es, ich habe ein großes Herz für Träumer und Versager.

So gar nichts abgewinnen kann der deklarierte Anarchist seit jeher der Zugehörigkeit zu einer politischen Partei.

Gibt es eine Partei oder einen Politiker, der Potenzial hat, etwas zu verändern?

Im Moment fällt mir unter den Politikern niemand ein. (Sagt es und fügt grinsend hinzu:) Ich wollte neulich wieder Rosa Luxemburg wählen. (Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, am 15. Jänner 1919 von einem Verband der Preußischen Armee ermordet) Die hätte das Potenzial. Und auch meine gute Freundin Petra Kelly (Gründungsmitglied der Grünen in Deutschland), die man schnöde im Stich gelassen hat. Ich finde jemanden wie Naomi Klein (kanadische Globlisierungskritikerin) ganz toll. Ja, es gibt schon großartige Wissenschafter, Literaten und Denker.

Wer ist ein großartiger Denker?

Nehmen wir den immer noch sehr jugendlichen Jean Ziegler (Schweizer Globalisierungskritiker) mit seinen 80 Jahren. Oder Chomsky (Noam Chomsky, linker Intellektueller, Kritiker der US-Politik). Was wären wir ohne Chomsky? Der ist ja fast die letzte Rettung, was Amerika betrifft. Der große intellektuelle Retter, der auf unserer Seite ist.

Wie steht’s mit dem neuen SPD-Spitzenmann Martin Schulz?

Schulz ist, glaube ich, ein netter Mensch, mit dem würde ich gerne Kaffee trinken gehen, aber der ist ein klassischer Neoliberaler. Das ist ein Schröder-SPDler. Allein schon sein Versuch, auf jeden Fall Rot-Rot-Grün zu verhindern und irgendwo diese unsägliche FDP ins Spiel zu bringen – das sagt doch schon alles.

Zyniker

Wer vermutet, Konstantin Wecker mimt vor Publikum den politischen Prediger, irrt. Er wechselt vom Flügel zum Rezitationstisch seiner eigenen Bücher, überlässt das Klavierspiel seinem Begleiter Jo Barnikel und hält das Mikrofon in die Menge, um das Mitsummen der Zuhörerschaft einzufangen.

Stellt sich nur die Frage: Was können Sie mit Ihren Liedern eigentlich bewirken?

Ich werde oft gefragt: Hast Du die Welt gerechter gemacht mit Deinen Liedern? Nein, eindeutig nicht. Man darf aber auch mal die andere Frage stellen: Wenn es solche Mosaiksteinchen wie meine Kollegen und mich, Journalisten und viele von den Ungenannten nicht geben würde, wie sähe dann die Welt aus? Wie viel beschissener sähe sie aus?

Ist die Chance auf andere, bessere Zeiten nicht vertan?

Ich verstehe alle, die so denken. Ich bin in einer privilegierten Position, weil ich jeden zweiten Abend 800 bis 1000 Menschen bei mir habe. Menschen, die nicht unbedingt der gleichen Meinung sind wie ich, aber dieselbe Sehnsucht haben. Ich könnte mir vorstellen, dass ich auch zum Zyniker werden könnte, wenn ich nur im stillen Kämmerlein schreiben würde, und nicht die Chance hätte, immer wieder Menschen zu erleben, die – ähnlich wie ich auch – die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben.

Der am 1. Juni 1947 in München Geborene wird mit 30 durch sein Ballade "Willy" berühmt. Der Liedermacher, Schauspieler und Autor zahlreicher Bücher (zuletzt "Das ganze schrecklich schöne Leben"/die dritte Biografie) sorgt in den 1990er-Jahren ob seines Kokainkonsums und der deshalb verhängten U-Haft für Schlagzeilen. Der erklärte Anarchist und Pazifist engagiert sich seit Jahrzehnten politisch besonders gegen Rechtsextremismus und wird dafür angefeindet. Der Vater zweier Söhne (17 und 20) lebt in Italien sowie in Deutschland.

Mitte Mai wird seine neue CD mit dem Titel "Poesie und Widerstand" erscheinen.

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