Eigentlich wollte er „Kinder der Sonne“ von Maxim Gorki in die Gegenwart holen. In diesem Stück (aus 1905) geht es schließlich um eine Epidemie, die Cholera. Doch dann verquickte Stone die Handlung rund um den Chemiker Protassow mit Gorkis „Feinde“ (aus 1906) über einen Streik in einer Textilmanufaktur: Er übernahm Konflikte, Figuren, Stimmungen – und verlegte die Handlung in die Himmelstraße oder sonst wo in Grinzing.
Paul Prositsch und seine Frau Tanya, eine bedeutend jüngere Schauspielerin, leben als „Kinder der Sonne“ in einem von Glasfronten dominierten Bungalow inmitten eines Gartens. Bob Cousins hat für die Drehbühne eine Art transparente Wagenburg hochgezogen: Vom Schlafzimmer gelangt man ins Bad beziehungsweise über einen Gang in den Salon und von dort in die Küche; abgetrennt davon befindet sich das Labor des Wissenschafters.
Aber nicht nur das Paar wohnt hier, sondern auch Pauls Schwester, ein feministischer Gutmensch, und Pauls Onkel, der Konservendosenfabrikant. Unentwegt sind Freunde zu Besuch: Pauls Schulfreund Dietmar, die Anwältin Melanie und dessen Bruder Botho. Der Geschäftsführer der Fabrik schaut vorbei und dessen Frau. Es gibt eine Haushälterin (aus dem ehemaligen Ostblock) und eine Putzfrau (mit arabischem Migrationshintergrund) und den ungehobelten Handwerker Igor.
Alle duzen sich, man scheint friedlich zu koexistieren, Herkunft oder Hautfarbe spielen keine Rolle. Es geht um Sex und Spiegeleier, eine Bloody Mary ist das Wundermittel gegen den monströsen Kater. Echten Problemen hat man sich auf diesem Melrose Place nicht zu stellen. Und so ist eben Melanie in Paul verliebt, Dietmar in dessen Frau – und Melanies Bruder in Pauls Schwester.
Simon Stone erzählt seine Gorki-Geschichte, angereichert um Anton Tschechows „Der Kirschgarten“, unglaublich leichtfüßig und amüsant, durchzogen mit geistreichen Bonmots – als hätte Woody Allen das Drehbuch für eine Netflix-Serie über den diskreten Charme der Bourgeoise geschrieben. Und er bereitet den überbordenden Stoff sehr filmisch auf: Jeder der drei Teile (man könnte auch „Akte“ sagen) ist ein „Take“ in Realzeit, es gibt keine Schnitte, keine Blackouts. Der eine Dialog geht, weil sich die Bühne mal schneller, mal langsamer dreht, nahtlos in den nächsten über.
Manches passiert auch parallel, weil man immerzu in die anderen Glascontainer sieht. Für die Mitspielenden gibt es nur ganz hinten, verdeckt von den Sträuchern im Garten, eine Möglichkeit, das Karussell unbeobachtet zu besteigen. Allein das Timing macht Staunen.
Und das 14-köpfige Ensemble vermag zu begeistern. Im Mittelpunkt steht ein grandioser Michael Maertens als weltfremder Wissenschaftler, der dem Virus keine Bedeutung beimisst – und lieber ein Mittel gegen den Schimmelbefall auf den Werken der alten Meister ersinnt. Den Handwerker Igor des Rainer Galke wegen sexueller Übergriffe rügen zu müssen, ist ihm eine körperliche Qual. Und der Konfrontation mit Tanya (Lilith Häßle), die beim Vögeln ihren Emilia-Galotti-Text memoriert, geht der Jammerlappen aus dem Weg: Von seinem Onkel bloß „Burschi“ gerufen, lässt er sich lieber von der neurotischen Melanie (Birgit Minichmayr) anhimmeln – und negiert, wie Roland Koch lässig seine Frau anbaggert.
Kompliziert wird es, als die Arbeiter Zugeständnisse einfordern, was der „Chef“ nicht nachvollziehen kann. Er sei ja nicht die Caritas. Der großherzige Goran mit serbischen Wurzeln (Dalibor Nikolic) hält mutig dagegen: Wenn die Firma bankrott gehe, seien auch die Arbeiter im Arsch, aber sie könnten ihren Stolz nicht komplett im Klo runterspülen, sie hätten Miete zu zahlen und seien wohl die Allerletzten, die gegen Covid geimpft würden.
Nach und nach kippt die Soap ins Verhängnisvolle, die Ereignisse überschlagen sich (es müsste sechs Teile geben!), und manches erscheint stark konstruiert. Aber diese doch nicht heile Welt der Familie Prositsch, Profiteure der Arisierung, ist von Anfang an keine realistische: Immerzu brennen die Deckenleuchten in den Glaskuben, auch am Morgen. Statt Himmel tiefe Schwärze.
Zum Schluss gibt es fast nur vereinsamte, depressive Menschen, die sich hinter den mit Zeitungspapier verklebten Scheiben verbarrikadieren. Lisa zum Beispiel fühlt sich schuldig am Selbstmord von Botho (Felix Rech): Wie Mavie Hörbiger in die Verzweiflung abdriftet, rührt zu Tränen. Ein großer Abend!
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