In Wien ist die Situation eine andere. Eine richtige Netrebko-Pause gab es hier nicht. Dennoch fragte man sich, wie das Publikum auf einen Solo-Abend mit ausschließlich russischem Liedgut reagieren würde. Zweifellos ist der Kontext des Russischen durch das andauernde Hinschlachten in der Ukraine ein anderer geworden – andererseits hatten Rimski-Korsakow, Rachmaninow und Tschaikowski überzeitliche Kleinode geschaffen, die man nicht einfach aus dem Verkehr ziehen soll. Und dies stellte der Opernstar mit unvergleichlichem Vortrag unter Beweis.
"Reine Schönheit"- nur auf Russisch
Nicht nur mit ihrer dunklen Sopranstimme, die schon nach wenigen Takten die Staatsoper in einen intimen Kammermusiksaal zu verwandeln schien. Auch mit schauspielerischen Gesten, die den Lufthauch einfingen, über die Bühne schreitend, mitunter tänzelnd, betonte sie den „Genius reiner Schönheit“, wie sie eingangs auf Russisch rezitierte. Englisch- oder deutschsprachige Wortspenden gab es von Netrebko keine, also keinerlei Bezugnahme zum Zeitgeschehen.
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Bei manchen russischen Textstellen, die in deutschen Untertiteln zu lesen waren, stockte einem kurz der Atem: „Sag mir, oh Sonne, die alles sieht, als du aus dem Osten zu uns kamst, hast du mein Vaterland gesehen, das Vaterland, von dem ich träume?“ Dieser Auszug aus Rimski-Korsakows „Hymne an die Sonne“ war eine der beiden Opernszenen, welche die durchwegs schwermütigen Lieder unterbrachen.
Was tun?
"Was tun?", fragt ein Lied von Rachmaninow. Aus dem Text: "`Wie sollen wir"` fragten sie, `für immer vergessen, dass es Armut und Unglück gibt in diesem Tal der Tränen, dass es Feindschaft und Kummer gibt?`Schlaft!` lautete die Antwort."
Vergessenheit ist wohl nicht die richtige Herangehensweise an die Fragen der Gegenwart.
Immerhin lautet die letzte Zeile des Liedes: "'Liebt!', antwortete die Schöne."
Mit einem Lächeln unterstrich Netrebko diese Botschaft. Vielleicht ein kleiner Hinweis auf die ewig gültige Lösung für Konflikte.
Man soll ja oft nicht zu viel heruminterpretieren. Aber es ist in diesen Zeiten kaum anders möglich. Und ein Abend in der Staatsoper, in der nichts außer Russisch gesprochen wird, schreit förmlich nach Kontext. Dass dennoch dieses Programm angesetzt wurde, ist eine mutige Entscheidung. Aber ist es auch ein Zeichen dafür, dass die westliche Front gegen Russland bröckelt? Ist das wieder zu viel hineininterpretiert? Seltsam wirkt die Enscheidung allemal.
Jubel - aber nicht zuviel
Pavel Nebolsin – ebenfalls in Russland ausgebildet – begleitete feinfühlig am Klavier. Die Bühne überließ Netrebko ihm nie alleine – und so war es mit mehr als 22 Stücken und einer Zugabe ein intensives Programm, das sie mühelos bewältigte.
Das Publikum dankte es mit deutlichem, wenngleich schaumgebremstem Jubel. Als Netrebko und Nebolsin nach mehreren Vorhängen ein letztes Mal auf die Bühne zurückkehrten, begann sich das Haus am Ring bereits wieder zu leeren – was kurz zu eher unfreiwilligen Standing Ovations führte.
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