Judith Schalansky: Literatur als Rettung vor dem Zerfall

Judith Schalansky: Literatur als Rettung vor dem Zerfall
Ihr Buch "Verzeichnis einiger Verluste" lässt sich nicht einordnen. Ein Festmachen von Verlorengegangenem ist es jedenfalls.

Manchmal wird etwas gefunden.
Ein seit 1941 für ausgestorben geglaubtes Blautäubchen in der brasilianischen Baumsavanne z.B.
Aber es verschwindet mehr.
Wir  verschwinden.
Jetzt kann man wegen der Verschwundenen die Friedhöfe am Stadtrand, also möglichst weit weg von unseren Wohnungen anlegen. Oder man isst, anderes Extrem, die toten Verwandten auf, wie es, laut Herodot, der indische Volksstamm der  Kallatier getan hat. Dann ist man ihnen sehr nah.
Oder man  legt es so an, dass es von der Küche aus Sicht auf die Gräber gibt.
So in etwa ist Judith SchalanskysVerzeichnis einiger Verluste“ – auch wenn es bei ihr nicht nur  freie Sicht auf Menschen gibt, sondern auch  auf Tiere und  Erschaffenes, das vernichtet wurde,  sich zersetzte, unauffindbar ist.
Schalansky: „Im Grunde ist jedes Ding immer schon Müll, jedes Gebäude immer schon Ruine und alles Schafen nichts als Zerstörung ...“

Buchkunst

Es ist ein Buch, das sich nicht schubladisieren lässt und schon deshalb neugierig macht.
Den mit 30.000 Euro dotierten angesehenen Wilhelm-Raabe-Literaturpreis  hat die Deutsche dafür kürzlich verliehen  bekommen.
Mit dieser Autorin (und Buchgestalterin!) kann man sich schon seit fast zehn Jahren  vom Fauteuil aus auf  Reisen begeben: zu abgelegenen Inseln, verlorenen Wörtern, zu den letzten Nashörnern, zu Kröten, Fliegen und Tiersprachen ...
Sie, als Reiseführerin, holt dafür das Beste aus den Bibliotheken.
Eines ist ihr „Verzeichnis einiger Verluste“ ganz bestimmt: Buchkunst. In dunkelblauen Seiten sind, leicht zu übersehen, Zeichnungen versteckt von Verlorenengegangenem – dem Judith Schalansky (Bild oben) in zwölf Kapiteln neues Leben einhaucht.
Nehmen wir das Kapitel „Kaspischer Tiger“:
Zuerst  macht sie eine Lexikoneintragung (letzte Exemplar 1954 erschossen). Danach hält sie den Tiger literarisch fest, indem sie symbolisch übereinen Gladiatorenkampf Mensch gegen Natur beschreibt.
So macht sie es beispielsweise und beispielhaft bei  der verlorenen Villa Sacchetti, bei den Liebesliedern der Sappho, bei den Büchern des Mani, dem Palast der Republik, bei der Enzyklopädie in einem Wald im Tessin.
Damit man sich eine Vorstellung machen kann:
In Zusammenhang mit Regisseur Wilhelm  Friedrich Murnaus erstem, verschollenen Film („Der Knabe in Blau“) ist Schalansky so frei, seine gute Freundin Greta Garbo durch New York geistern zu lassen.
Ihr „Verzeichnis einiger Verluste“ archiviert.
Poesie gegen das Flüchtige. Nur die Literatur macht  beständig.

 

Judith
Schalansky:

Verzeichnis einiger Verluste“
Suhrkamp Verlag.
13 Abbildungen.
252 Seiten.
24,70 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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