Das Leben ist zu Ende, noch bevor der Pastis ausgetrunken ist

Jérôme Ferrari, französischen Lehrer mit korsischen Wurzeln, Preisträger der Prix Goncourt 2012
Die verschwitzte Bar eines korsischen Dorfes ist der Anfang und das Ende jeder Hoffnung.

Hier, irgendwo in einem korsischen Dorf, trinken Männer, die vielleicht nie eine Zukunft hatten, gegen ihr vergeudetes Leben an. Gottverlassene Mädchen und militante Nationalisten haben diese Kaschemme zu ihrem Hauptquartier gemacht.

Die Bar – sie gehört Marie-Angèle Susini, die einen schweren Start ins Leben hatte und sich trotz vorzeitiger Falten und vom Spülmittel geschundener Hände ihre Selbstachtung bewahrt hat– ist nun erneut Dreh-und Angelpunkt bei Jérôme Ferrari und seiner korsischen Mischung aus archaischer und touristischer Welt.

Das Leben ist zu Ende, noch bevor der Pastis ausgetrunken ist

„Balco Atlantico“ beginnt mit dem Tod des jungen Nationalisten Stéphane Campana, dem zwei Jagdgewehrkugeln direkt vor der Bar den Bauch zerfetzen. Der Geruch von warmem Blut und Scheiße verbreitet sich schnell an diesem lauen Oktoberabend. Bevor er erschossen wurde, war Campana noch in einen Hundehaufen getreten.

Virginie, Marie-Angèles Tochter, wird aus dem Haus rennen, schreien, dass sie an diesem Schmerz zugrunde zu gehen und nie darüber hinwegkommen wird. Sie hatte eine merkwürdig naive Beziehung zu dem Toten, einem einfältig-fanatischen Nationalisten, über dessen Aktivitäten sie schon als Zehnjährige Zeitungsausschnitte gesammelt hatte. In der Pubertät war eine immer wildere und verzweifeltere Liebe zu Stéphane Campana in ihr ausgebrochen, die sich dieser erst zu erwidern traute, als das Mädchen älter wurde. Von da an wuchs der Hass, den Virginies Mutter ihm entgegenbrachte. Marie-Angèle wird erlöst durch den Tod Stéphane Campanas. Während die Tochter heult, muss die Mutter erleichtert lachen.

INFO: Jérôme Ferrari:„Balco Atlantico“ Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession. 174 Seiten 20,60 Euro KURIER-Wertung:

Der Untergang Roms

Dass es mit Virginie auch ohne Stéphanes schlechten Einfluss nicht gut gehen wird und Marie-Angèle die Bar verpachten wird, weil sie den Pastis nicht mehr riechen kann, weiß, wer Ferraris Vorgängerroman „Predigt auf den Untergang Roms“ gelesen hat. Auch hier: Dorfkneipe, brütende Hitze, und mit naivem Pathos vollgesaugte Nationalisten. Mütter, die verzweifelt versuchen, ihren Söhnen ein besseres Leben auf dem Festland zu bieten – damit sie etwas anders werden als Säufer oder Jäger, die ihre Tage damit verbringen, halbwilden Schweinen die Hoden abzuschneiden.

Das Leben ist zu Ende, noch bevor der Pastis ausgetrunken ist

Schmerzvoll geht es meist zu bei Jérôme Ferrari, einem französischen Philosphielehrer mit korsischen Wurzeln, der mit seinem Debüt „Und meine Seele ließ ich zurück“ 2010 Preise einheimste: Während des Algerien-Krieges begegnen sich in einem Gefängnis ein Folterer und sein Opfer. Die Geschichte von Schuld und Mitgefühl wurde mehrfach ausgezeichnet.

INFO: Jérôme Ferrari „Und meine Seele ließ ich zurück“. Übers. von C. Ruzicska. Secession.160 S. 20,60 €

Die beste aller Welten

Das Leben ist zu Ende, noch bevor der Pastis ausgetrunken ist

Es folgte „Predigt auf den Untergang Roms“ und der Prix Goncourt – die höchste literarische Würdigung, die Frankreich zu vergeben hat. Zwei Söhne des korsischen Dorfes, Libero und Matthieu, geben ihr Philosophiestudium in Paris auf und lassen sich mit der Dorfbar auf eine Fahrt in die Hölle ein. Sie wollen dort Leibniz’ Idee der besten aller möglichen Welten umsetzen. Doch Ferrari ist unerbittlich. Er überlässt seine Protagonisten mit unbändiger Grausamkeit dem Schicksal. Das liest sich manchmal nach Alte m Testament: „Aber die Berge verhüllen die weite, offene See und erheben sich in ihrer trägen Masse gegen Marcel und seine unaufhörlichen Träume.“ Doch gleichzeitig mit diesem Predigerton gelingt Ferrari eine heiter-sarkastischen Erzählweise. Die Welt geht unter mit Überschriften, die von Augustinus, stammen. Dabei geht es doch einfach um zwei Idioten, die ihr Leben zerstören.

INFO: Jérôme Ferrari: „Predigt auf den Untergang Roms“. Übers. von C. Ruzicska. Secession. 208 S. 20,60 €

Ferrari hat, wie sein Protagonist, Augustinus studiert. Mehr noch als der römische Philosoph hat ihn sein korsischer Großonkel Antoine Versperini beeinflusst. Beide, Ferrari und sein Onkel, verstehen viel von Korsika.

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