Den Finger auf offene Wunden legen

Ismael Ivo und sein Ensemble Biblioteca do Corpo wagen sich im Wiener Volkstheater an "Eréndira" von Gabriel García Márquez
Ismael Ivo und die Biblioteca do Corpo bringen "Eréndira" von Gabriel García Márquez auf die Bühne.

Eine Großmutter, die ihre Enkelin zur Prostitution zwingt, nachdem diese versehentlich das Haus in Brand gesteckt hat. Die wiederum zu fliehen versucht und die böse Oma mit Unmengen von Rattengift umbringen will. Doch statt zu sterben, blüht die Unmenschliche auf.

Das ist "Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter". Es ist ein schauriges Märchen von Liebe, Tyrannei und grotesker Grausamkeit: Die 14-jährige Eréndira muss ihrer alten Oma das versengte Haus ersetzen und mit zahllosen Männern schlafen.

Ausbeutung

Den Finger auf offene Wunden legen
Die wilde Mischung aus Sozialstudie und magischem Realismus, die Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez schon 1967 in "Hundert Jahre Einsamkeit" angedeutet hat, diese allegorische Beschreibung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsmethoden (nicht nur) in Lateinamerika ist eine wunderbare Erzählung – doch wie bringt man sie auf dieBühne?

Als Oper fiel der Stoff durch: Violeta Dinescus Werk wurde 1992 in Stuttgart uraufgeführt und weitgehend verrissen, und auch ein Film aus 1989 war, trotz der grandiosen Irene Papas als Großmutter, kein Erfolg.

Jetzt wagt sich Ismael Ivo mit dem Ensemble Biblioteca do Corpo an den Stoff.

Doch kann man Márquez Bildermacht überhaupt darstellen? Und wie tanzt man magischen Realismus? "Ich liebe dieses Buch", lautet die einfache, schwärmerische Antwort des aus São Paolo gebürtigen ImPulsTanz-Mitbegründers Ismael Ivo.

"Ich bin ein Fan von Gabriel García Márquez , und als brasilianischer Tänzer und Choreograf bin ich natürlich sehr dem magischen Realismus verbunden. Es ist, als würde man die Grenze der Realität überschreiten. Jorge Luis Borges, einer der Väter des magischen Realismus, sagte: ,Realität hängt immer vom Blickwinkel ab.‘ Das glaube ich auch. Und auch Márquez gelang es, seine Protagonisten in einem Universum der Möglichkeiten, der Fantasien zu sehen. Er schaffte es, Imagination und Fantasie für die Literatur und Poesie zu nutzen."

Kinderprostitution

Doch Ivos "Eréndira" will gar nicht versuchen, Poesie in Tanz zu übersetzen. Márquez’ Vorlage dient vielmehr als Basis, auf der er eine tänzerische Reflexion über die Realität aufbaut: "Mit Márquez im Hintergrund wollen wir den Finger auf die offenen Wunden der Gesellschaft legen – Menschenhandel, Kinderprostitution."

Ivo weiter: " Was bedeutet es heute, wenn 200 nigerianische Mädchen verschleppt werden? Wer hat das Recht, das Leben eines Kindes zu stehlen? In jeder großen Stadt der Welt verschwinden Kinder. In São Paolo habe ich Mütter verschollener Kinder getroffen – ich habe unfassbare Geschichten gehört. Von Müttern, deren Kinder auf dem Schulweg verschwanden. Die nachts unter den Brücken von São Paolo nach ihnen suchten. Manche warten seit Jahrzehnten auf ihre verschwundenen Söhne und Töchter."

Egal ob in Südamerika, Thailand oder in Osteuropa: Es gibt viele solcher Geschichten. Geschichten von verschwundenen Kindern, verkauften Kindern, die als Zwangsarbeiter oder Prostituierte enden. "Sie sind die Eréndiras unserer Welt."

Disneyland

Um sein Ensemble auf dieses eindringliche, emotionale Thema vorzubereiten, bat Ivo die Tänzer, prägende Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit aufzuschreiben. "Die meisten von ihnen haben schlimme Erlebnisse beschrieben. Das überrascht, denn die meisten Menschen neigen zur Ansicht, dass Kindheit fröhlich zu sein hat. Das ist sie nicht. Kindheit ist kein Disneyland."

Diese prägenden Momente sind es, von denen die Tänzer zehren, sagt Ivo: "Technik und Können sind eine Sache. Doch als Künstler brauchst du ebenso Herz, Seele und Verstand. Und schlimme Erfahrungen können dich künstlerisch weiterbringen. Man muss sein Leben als Spiegel verwenden. Auf der Bühne gibt es keine Lösungen,aber wir können Veränderungen inspirieren. Unsere künstlerischen Performances sind realistische Statements, hinter denen die magische Faszination Márquez’ steckt."

"Charisma?" Das kann man nicht per Kilo im Supermarkt kaufen. Man braucht als Künstler emotionale Erfahrung“, sagt Ismael Ivo. Technik allein genügt dabei nicht, die jungen ausgebildeten Tänzer, die noch in den Startlöchern der Karriere stecken, müssen auch mit geistigem und emotionalem Engagement überzeugen.

Das ist der Gedanke, der hinter hinter dem Projekt Biblioteca do Corpo steckt, das Ismael Ivo vergangenes Jahr vorgestellt hat. Gecastet wurden die 35 jungen Tänzer der sich stets erneuernden Kompagnie auf der ganzen Welt: in China, Südamerika, Europa. Innerhalb von sechs Wochen wurden aus vielversprechenden Einzeltalenten Performer einer gemeinsamem Choreografie.

"Eréndira" ist am 13. 14. und 15. 8. jeweils 21 Uhr im Volkstheater zu sehen.

www.impulstanz.com

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