„Ich war immer schon ein bisschen anders als die anderen“, sagt Amin, der mit seinem Freund in Kopenhagen zusammen lebt. Er beantwortet die Fragen von Jonas Poher Rasmussen, einem dänischen Jugendfreund und Doku-Regisseur, der an einem Film über Amins Lebensgeschichte arbeitet.
Rasmussen und Amin kennen sich, seit sie 15 Jahre alt sind. Zu diesem Zeitpunkt hat Amin seine fünfjährige Flucht aus Afghanistan über Moskau hinter sich gebracht und ist in Kopenhagen gelandet. Seitdem sind die beiden eng miteinander befreundet, und Amin ist ein anerkannter Wissenschafter geworden.Trotzdem hat es 20 Jahre gedauert, bis er bereit war, die Geschichte seiner lebensgefährlichen Bootsfahrt nach Europa zu erzählen. „Flee“ heißt das Dokument der Gespräche und ist der ergreifende Eröffnungsfilm des Menschenrechtsfilmfestivals this human world (siehe Info).
Zudem wurde er als dänischer Kandidat für den Auslandsoscar eingereicht und vielfach mit Preisen überhäuft, denn „Flee“ ist keine landesübliche Doku mit sprechenden Köpfen und alten Familienbildern. Stattdessen hat Jonas Poher Rasmussen, Jahrgang 1981, die traumatischen Erinnerungen seines Freundes in packende Animationen übersetzt und mit historischem Archivmaterial verfeinert. Wenn Amin davon erzählt, wie er als illegaler Flüchtling bei der Eröffnung der ersten McDonald’s-Filiale in Moskau dabei war, sehen wir zuerst Doku-Aufnahmen von diesem Ereignis, ehe es scheinbar nahtlos in animierte Bilder überfließt.
Er habe sich aus mehreren Gründen für die Animationstechnik entschieden, erzählt Jonas Poher Rasmussen im KURIER-Gespräch: „Amin wollte anonym bleiben. Dann handelt es sich um traumatische Erinnerungen, die wir durch unterschiedliche Techniken sehr emotional darstellen konnten. Und schließlich ließen sich die Kindheit in Kabul und die Jahre in Moskau durch die Animation lebhafter erzählen.“
Rasmussen wählte verschiedene visuelle Stile für die Erinnerungen seines Jugendfreundes. Albtraumhafte Episoden wie die grässliche Flucht von Amins Schwestern in einem Container oder Amins elende Überfahrt im Bauch eines überfüllten Bootes erscheinen als geisterhafte Skizzen in Schwarz-weiß, im Gegensatz zu farbenfroheren Passagen.
Während der Interviews mit dem Regisseur liegt Amin auf einer Couch, als wäre er in freudianischer Psychoanalyse: „Das ist eine Interviewtechnik, die ich beim Radio gelernt habe“, sagt Rasmussen: „Die Interviewpartner werden angehalten, sich hinzulegen, ihre Augen zu schließen und im Präsens zu erzählen. So findet man leichter in die Erinnerungen zurück.“
Tatsächlich fällt Amin der Weg in die eigene Vergangenheit schwer, weil er immer wichtige Aspekt seines Lebens geheim halten musste: In Afghanistan war es seine Homosexualität, in Dänemark die exakten Bedingungen seiner Flucht. Selbst Rasmussen zeigt sich verblüfft über unglaubliche Wendungen der Lebensgeschichte.
Als 2015 die Flüchtlingskrise in Europa allgegenwärtig wurde, änderte sich für ihn, der eigentlich „nur“ die Geschichte eines Freundes erzählen wollte, auch das Filmprojekt: „Flüchtling sein ist keine Identität, sondern ein Lebensumstand. Amin ist Flüchtling, aber er ist viel viel mehr als das. Davon wollte ich aus der Perspektive unserer Freundschaft erzählen.“
Und noch etwas ist Jonas Poher Rasmussen wichtig: „Amin konnte etwas aus seinem Leben machen, weil er in Dänemark eine Chance bekam. Dabei ging es um ein gegenseitiges Vertrauen, das heute stark unter Druck geraten ist. Ich hoffe sehr, dass ,Flee‘ die Menschen dazu anregt, einander wieder mehr zu vertrauen.“
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