"Who is Who" des Weltkinos
Das Filmfestival von Cannes wiederum hat sich in seinem Programm – abgesehen von den glamourösen Kurzauftritten (amerikanischer) Großevents – durchwegs der Pflege des gehobenen Autorenkinos verschrieben. Einmal mehr bestand auch heuer der Wettbewerb aus einem „Who is Who“ des Weltkinos. Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne beispielsweise, die 1999 für ihr radikal subjektiv erzähltes Sozialdrama „Rosetta“ die Goldene Palme gewonnen hatten, kehrten mit ihrem Film „Tori und Lokita“ nach Cannes zurück. Diesmal stellten sie zwei junge afrikanische Migranten in den Mittelpunkt, die sich als Geschwister ausgeben und um ihre Aufenthaltsgenehmigung in Belgien kämpfen. Dabei verwickeln sie sich in Drogengeschäfte.
In ihrem gewohnt semi-dokumentarischen Stil folgen die Dardennes ihren herausragenden Laiendarstellern und beobachten deren Scheitern an der belgischen Bürokratie. Ihre große Empathie ist spürbar, doch bleibt ihre geradlinige Erzählung allzu schlicht und holzschnittartig.
Ebenfalls ein alter Bekannter im Cannes-Kanon ist David Cronenberg, der kanadische Meister des Körperhorrors. Bereits 1996 sorgte Cronenberg mit seiner Fleisch-Metall-Fusion, dem Autosex-Drama „Crash“ für Aufregung. In dem neuen Thriller „Crimes of the Future“ mit Léa Seydoux, Viggo Mortensen und Kristen Stewart ist Chirurgie der „neue Sex“.
In naher Zukunft wuchern im Inneren des Körpers neue Organe, die sich ein Performance-Künstler vor Publikum von seiner Partnerin entfernen lässt. Der Schnitt ins Fleisch entpuppt sich als erotische Handlung, der Blick in das Innere des Körpers als lustvolle Intimität.
Cronenbergs vorab publizierte Prophezeiung, das Publikum würde angeekelt in Scharen den Saal verlassen, erfüllte sich nicht; dafür fühlte sich seine düstere Zukunftsvision zu sehr nach „Vintage-Cronenberg“ an. Doch sein Einfluss auf das gegenwärtige Horrorkino ist unübersehbar, wenn man etwa an Julia Ducournaus Schocker „Titane“ denkt, der letztes Jahr die Goldene Palme gewonnen hat.
Apropos Palme: Mit dem Japaner Kore-eda Hirokazu kehrte schließlich ein weiterer Gewinner der Goldenen Palme zurück. Sein zärtliches Drama „Shoplifters – Familienbande“ hatte ihm 2018 den höchsten Preis von Cannes eingetragen.
In seinem trefflich inszenierten Sozialdrama „Broker“ begibt er sich erstmals nach Südkorea, wo eine Gruppe Kleinkrimineller versucht, ein Baby zu verhökern, in Wahrheit aber selbst ganz verliebt in den Säugling ist. Einmal mehr greift Kore-eda seine Lieblingsthemen Eltern, Kinder und (Ersatz)Familie auf und verwandelt sie in ein zutiefst humanistisches Manifest. Sein Film fühlt sich an wie eine innige Umarmung – zum schönen Ausklang des Filmfestivals von Cannes.
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