Filmkritiken der Woche: Gestank von Kloake und #MeToo für die Heldin
Es beginnt mit einer Degradierung. Der französische Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus ist des Hochverrats angeklagt und wird vor versammelter Armee
seiner militärischen Würden entledigt. Jeden Knopf seiner Uniform reißt man ihm einzeln herunter, sein Säbel wird zerbrochen. Die hohen Militärs schauen befriedigt zu, einer von ihnen macht einen antisemitischen Witz über Dreyfus: „Er sieht aus wie ein jüdischer Schneider, der um sein verlorenes Gold weint.“
Accuse Intrige
Die Geschichte wird Alfred Dreyfus recht geben. Seine Verurteilung, angetrieben von einer Welle des Antisemitismus, erwies sich als grober Justizirrtum und stürzte Frankreich in eine tiefe, innenpolitische Krise. Der berühmte Schriftsteller Émile Zola verfasste seinen legendären Protestbrief „J’accuse“ („Ich klage an“) gegen das Dreyfus-Urteil; danach musste er des Landes flüchten, um einer Haftstrafe zu entgegen.
Roman Polanski hat in seinem gediegenen, aber packend inszenierten Justizthriller die „Affäre Dreyfus“ minutiös und mit erhobenem Zeigefinger aufgerollt. Doch seit seiner Premiere verursacht „J’accuse“ Kontroversen, weil Polanski in den USA eine Verurteilung wegen Vergewaltigung droht. Dass er zudem in einem Interview klare Parallelen zwischen dem unschuldig verurteilen Dreyfus und seiner eigenen Person zog, goss weiter Öl ins Feuer. Als Ende vergangenen Jahres eine Französin erneut Vergewaltigungsvorwürfe erhob, kam es beim französischen Filmstart zu Protesten.
Trotzdem triumphierte „J’accuse“ an den Kinokassen.
Maroder Geheimdienst
Jener Mann, der Dreyfus am Beginn mit einem jüdischen Schneider verglich, ist Oberst Picquart – ein deklarierter Antisemit, aber mit starkem Sinn für Gerechtigkeit. Nach der Verurteilung wird Picquart zum Chef der Geheimdienstabteilung promoviert und findet sich plötzlich in der Spionageabwehr wieder.
Als er sein neues, marodes Dienstgebäude betritt, trifft ihn fast der Schlag: Hinter der knirschenden Tür schnarcht ein uralter Pförtner, das Treppengelände ist so dreckig, dass man sich besser nicht daran anhält und es stinkt nach Kloake. Fenster lässt sich aber keines öffnen.Langsam dämmert es Picquard, dass die Beweisführung gegen Dreyfus in diesem Saustall womöglich nicht mit rechten Dingen zuging. Doch seine Vorgesetzten wollen von einem möglichen Justizirrtum nichts wissen.
Besonders in der ersten Hälfte seines zügig erzählten Militärdramas liefert Polanski die stärksten Moment. Er hat sichtlich größte Freude daran, sich mit den kriminalistischen Aufdeckermethoden des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu spielen. Liebevoll beobachtet er die Geheimpolizei dabei, wie sie mit dem Stethoskop die Wände abhorcht, zerrissene Telegramme zusammen klebt und über Wasserdampf Privatpost öffnet. Grassierender Antisemitismus in allen Gesellschaftsschichten liefert suggestive Verweise: Bilder von der Verbrennung der Zola-Bücher und der Beschädigung jüdischer Geschäfte führen in die unmittelbare Assoziation mit dem Dritten Reich.
Insgesamt aber interessiert sich Polanski weniger für Dreyfus, den Louis Garrel würdevoll als wenig sympathischen Stockfisch spielt, als vielmehr für Picquart und dessen Kampf für Gerechtigkeit: Jean Dujardin, bekannt aus „The Artist“, macht als Chefermittler mit seinem charismatischen Gesicht durchgehend gute Figur. Es ist seine unbeugsame Integrität und die aufklärerische Kraft der Medien, auf die Polanski mit dem Finger zeigt.
INFO: Justizthriller. F/I 2019. 132 Min. Von Roman Polanski. Mit Jean Dujardin, Louis Garrel.
Filmkritik zu "Birds of Prey": #MeToo gilt auch für Comic-Figuren
Erst der schmerzvolle Verlust von einigen Millionen Dollar kann die Studiobosse vielleicht dazu bringen, ihre Energien in ein paar neue Ideen zu investieren, anstatt Sequel auf Sequel und Remake an Remake zu reichen.
Bis dahin müssen wir wohl akzeptieren, dass die Flut an Comicverfilmungen im Mainstreamkino ein ähnlich unerträgliches Maß annimmt wie das der französischen Komödien im Programmkino-Segment.
Diese Fließbandproduktion von Fanfiction und das Abgrasen selbst der kleinsten und unbedeutendsten Comic-Helden und -Heldinnen führt zu einem kreativen schwarzen Loch.
Aber was für die einen Trash ist, kann bei anderen Kult-Status erreichen. Vor allem, wenn es sich um Filme mit Frauen als Protagonisten handelt.Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis nach der Rettung von Gotham City durch die selbsternannte „Suicide Squad“ eine bunt gewürfelte Girl-Truppe ausrückt, die den Männern der düsteren Comic-Metropole nach sexuellen Übergriffen nicht nur auf die Finger klopft. Die #MeToo-Bewegung macht schließlich auch nicht vor Comic-Figuren halt.
Wie schon der Titel verheißt, geht es in diesem achten Film aus der Comic-Welt des DC Extended Universe um die Emanzipation von Harley Quinn, nachdem sie den „Joker“ verlassen hat.
Als ein junges Mädchen – zufällig oder absichtlich? – einen großen Diamanten des Gangsters Black Mask verschluckt und von dessen Spießgesellen gejagt wird, schließen sich Harley Quinn, Black Canary, Huntress und Renee Montoya zusammen, um sie zu schützen.
Außer der jungen Margot Robbie, die ihrem hypersexualisierten weiblichen Harlekin Harley Quinn durchaus den Anschein einer inneren Komplexität verleihen kann, und Ewan McGregor, der den Unterweltboss Black Mask genüsslich fies spielt, wirken einige der Beteiligten, als wüssten sie nicht, wie es sie ans Set verschlagen hat.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: Comic. USA 2020. 109 Min. Von Cathy Yan. Mit Margot Robbie, Ewan McGregor.
Filmkritik zu "21 Bridges": Killerjagd in Manhattan
„Black Panther“-Star Chadwick Boseman kann nicht nur Super-Held, sondern auch Super-Cop: Als schießfreudiger und durchaus auch zielsicherer New Yorker Detective führt er eine gigantische Jagd auf zwei Polizistenmörder an, die sich in Manhattan verstecken.
21 Bridges
„Fluten wir die Insel mit Cops“, lautet die Parole – und alle 21 Brücken Richtung Manhattan werden bis fünf Uhr morgens abgeriegelt.
Chadwick Boseman hat mehr als genug Charisma, um auch einen etwas überspannten Krimi rund um Drogendeals und Polizeikorruption elegant durch schlanke 99 Minuten zu tragen; umso mehr, wenn ihm Sienna Miller als Kollegin zur Seite steht.
Zudem funkeln die nachtschwarzen Stadtansichten von New York (eigentlich Philadelphia, das als New York verkleidet wurde) in urbaner Pracht und machen „21 Bridges“ zu einem formschönen Location-Thriller in glitzerndem Noir.
TV-Regisseur Brian Kirk liefert mit „21 Bridges“ sein Kinodebüt: Sowohl die Übeltäter als auch die Polizisten feuern ihre Kugeln mit so hoher Schlagzahl ab, als würden sie sich im Vietnam-Krieg befinden. Doch die kompakt choreografierte Action, eine temperamentvolle Kamera und rundum tolle Schauspieler ergeben einen robusten, kurzweiligen Cop-Thriller.
INFO: Thriller. USA 2019. 99 Min. Von Brian Kirk. Mit Chadwick Boseman, Sienna Miller, Taylor Kitsch.
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