Filmfestival Venedig: Zurück im Reich der Sinne
Die Erotik im Kino ist zurück, hatte Festivaldirektor Alberto Barbera bereits zu Beginn der Filmfestspiele in Venedig verkündet: Die Zeiten der Prüderie seien vorbei. Verstärkt würden sich Filme wieder mit Sexualität und ihren unterschiedlichen Spielarten befassen, „egal ob heterosexual, homosexuell, sadomasochistisch oder fluid“.
Als eines der herausragenden Beispiele für diese „Trendwende“ führte er „Babygirl“ ins Treffen – einen auf Hochglanz polierten Erotikthriller mit Nicole Kidman, der bei Premiere in Venedig mit Standing Ovations belohnt wurde; und zwischendurch auch mit Gelächter, denn das schweißtreibende Drama der niederländischen Regisseurin Halina Reijn steht mit einem Bein in der Komödie.
Noch bevor man das erste Bild von „Babygirl“ sieht, geht es schon los mit Gestöhne – allerdings, wie sich bald herausstellt, vorerst noch im ehelichen Bett. Doch der exzessive Schein des Paares trügt. Obwohl die Ehefrau größte Lust heuchelt, wird sie ihrem Ehemann später ins Gesicht schleudern, dass sie in den 19 Jahren mit ihm noch keinen einzigen Orgasmus hatte. Nicole Kidman spielt Romy, die höchst erfolgreiche Geschäftsführerin einer Roboterfirma, deren (Sex)leben nach außen hin perfekt aussieht.
Ihr fescher Ehemann (etwas ungelenk: Antonio Banderas) ist ihr treu ergeben, ihre zwei Kinder süß, ihre Karriere in der höchsten Chefetage. Als ihr aber ein junger Mann namens Samuel als Praktikant zugewiesen wird, beginnt sich ihr perfektes Dasein zu zerlegen. Samuel wittert hinter der strengen Fassade seiner neuen Chefin die Lust auf Unterwerfung und beginnt mit ihr ein gefährliches, erotisches Machtspiel.
Der 28-jährige Brite Harris Dickinson, der bereits in Ruben Östlunds „Triangle of Sadness“ sowohl seine Fähigkeit zum männlichen Model, als auch zur Selbstironie bewiesen hat, verkörpert den jungen Aufreißer mit dem Selbstbewusstsein von Jugend und Schönheit. Wenn er Romy befiehlt, in den Hinterzimmern eines schäbigen Hotels vor ihm auf die Knie zu geben, schleicht sich ein Grinsen in sein Gesicht – allerdings nicht verachtungsvoll, sondern eher stolz auf den eigenen Instinkt für die erotischen Fantasien seiner Partnerin. Die Affäre nimmt ihren verhängnisvollen Verlauf und bietet Nicole Kidman die Bühne für das, was man eine „mutige Rolle“ nennt. Souverän steigt sie in die Tiefen ihrer Leidenschaften hinab und durchleidet lustvoll gedemütigt ihre Begehren. Nicht weniger mutig zeigt sie sich in einer Szene beim Arzt, der ihr fleißig Botox ins Gesicht spritzt, was ihre Tochter später zu der Bemerkung verleitet: „Du siehst aus wie ein toter Fisch.“
Die meisten Sexszenen inszeniert die Regisseurin relativ konventionell und ästhetisch nicht weit von Mainstream-Filmen wie „9 ½ Wochen“ entfernt. Auf der narrativen Ebene aber ist sie in der Gegenwart angekommen: Die Frau, die sich sexuell emanzipiert, wird am Ende nicht mehr bestraft wie beispielsweise noch Glenn Close in „Eine verhängnisvolle Affäre“. Romy hat ihre Lektion gelernt: „Wenn ich mich nächstens demütigen lassen möchte, zahle ich Geld dafür.“
Von der Affäre ins Unglück
Tief ins Reich der Erotik stößt auch der mexikanische Oscarpreisträger Alfonso Cuarón („Gravity“, „Roma“) mit seiner siebenteiligen Mini-Serie „Disclaimer“ für Apple TV+ vor. In kleinteiligen Episoden konfrontiert er das Leben der erfolgreichen Journalistin Catherine (toll: Cate Blanchett) mit Ereignissen aus ihrer Vergangenheit. Und wieder ist es eine Affäre, die das Unglück auslöst: Als junge Frau ließ sich Catherine mit einem Teenager ein, der ein tragisches Ende nahm, vor seinem Tod aber Fotos von der Geliebten in pornografischen Posen aufnahm. Jahre später bringt sein Vater diese Bilder in Umlauf und bringt Catherine in existentielle Nöte.
Cuarón, seines Zeichens mexikanischer Oscarpreisträger, erzählt die verhängnisvollen Ereignisse in der opulenten Ausführlichkeit des Prestige-Fernsehens. Besonders die Bettszenen zwischen Catherine (jung gespielt von Leila George) und dem Teenager inszeniert er im leicht trashigen Stil des Softpornos, während im Hintergrund „Ti amo“ heult. Am Ende ist nichts, wie es scheint, und Cuarón versteht es, seine langatmige Geschichte noch einmal komplett herumzureißen. „Disclaimer“ ist ein klassischer Serienfall von „guilty pleasure“, bestens aufgehoben im Fernsehen.
Mehrfach-Romanze
Zum Thema Sex und Affäre bleiben sich auch die Franzosen treu, wenngleich die fröhlich vor sich hin plappernde Tragikomödie „Three Friends“ von Emmanuel Mouret Bettszenen weitgehend weglässt. Stattdessen wird unglaublich viel geredet: Drei Freundinnen durchleben und durchleiden Trennungen, Affären und Seitensprünge zwischen Drama und Vergnügen. Irgendwo zwischen Éric Rohmer und Woody Allen, dekliniert der französische Regisseur menschliches Verhalten im Rahmen einer Mehrfach-Romanze durch – ganz ohne Nacktheit, aber in (sehr) vielen Worten.
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