Prüderie bekämpfen
Sie genoss den Aufruhr und die Empörung der bourgeoisen Gesellschaft. Prüderie zu bekämpfen, die sexuelle Identität von Frauen aufzuwerten und sie aus einem System zu befreien, das sie als unterwürfig erscheinen lässt und dafür kein filmisches Mittel zu scheuen, das war ihr Antrieb. Nun, mit 75 Jahren ist sie deutlich abgeklärter.
Nach zehn Jahren Drehpause präsentiert Breillat einen neuen Film. "L’Été Dernier" ("Der letzte Sommer"), erzählt von Anne und Pierre, einem gut situierten Paar – sie Anwältin, er Geschäftsmann –, in deren Familienidyll nahe Paris mit zwei süßen Adoptivtöchtern der 17-jährige Sohn des Mannes aus erster Ehe platzt. Théo ist rotzig und rebellisch und heischt nach Aufmerksamkeit. Er stört das Gefüge, doch Anne (formidabel: Léa Drucker) bemüht sich nach Kräften, ihn in die Familie zu integrieren.
Nach und nach gelingt es ihr, den jungen Mann zu besänftigen und Nähe herzustellen – zu viel Nähe. Sie erliegt dem Charme des Teenagers und hat Sex mit ihm. Ein programmierter Skandal. "Lust und Begehren sind eben da, man kommt nicht gegen die Natur an", sagt Breillat im Gespräch anlässlich ihres Besuchs bei der Viennale nüchtern. "Das ist kein Drama, das ist einfach so. Man kann sich diesem Sog des Begehrens nicht entziehen, auch wenn der Kopf sagt, lass es sein. Begehren ist kein Verbrechen. Für mich ist dieser Puritanismus, der immer mehr zunimmt, unerträglich. Leidenschaft, Anziehung und Lust sind doch etwas Natürliches."
"L’Été Dernier" ist inspiriert von "Queen of Hearts" der dänisch-ägyptischen Regisseurin May el-Toukhy, doch Breillat nimmt für sich in Anspruch, einen anderen Film gedreht zu haben.
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Kritik am Moralismus
"Im dänischen Film kommt die Anwältin sehr unsympathisch rüber, was ich nicht wollte", sagt sie. "Auch der junge Théo erscheint bei mir weicher. Er darf den Zorn eines Jugendlichen haben, aber auch eine Naivität und Zerbrechlichkeit, die ihn sympathisch macht und uns näher bringt."
Sie habe auch das Ende des Films verändert: "Ich lasse alles offen, ich urteile nicht über diese ungewöhnliche Beziehung, ich beende sie nicht. Der Junge soll nicht als Verlierer in diesem Spiel erscheinen."
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Hat sich Breillats Blick auf die Menschen, auf die Welt in den zehn Jahren ihrer Filmabstinenz verändert? "Ja, im guten wie im schlechten Sinn. MeToo war ein Aufbruch, etwas Positives und ganz Wichtiges für uns Frauen. Aber was wir jetzt erleben, ist die Rückkehr des Rohrstocks. Ein unerbittlicher Puritanismus und Moralismus, der die jungen Menschen orientierungslos macht. Diese Leichtigkeit, die die Anziehung von Menschen ausmacht, ist verloren gegangen. Was soll das, eine formelle Zustimmung zu erteilen, bevor man ins Bett geht? Das geht doch nicht. Man findet sich anziehend oder nicht. Punkt."
Inzest und Schande
Auch wenn sie selbst findet, sie sei ruhiger geworden und mache jetzt Filme, die sie "sogar als klassisch" bezeichnen würde, ist Breillat immer noch für Schlagzeilen gut. Französische Kritiker warfen ihr vor, in "L’Été Dernier" Inzest zu verherrlichen und dass das eine Schande sei. Dass sie eine Schande sei!
"Sehen Sie, deshalb fahre ich gerne zu Festivals ins Ausland, weil man da einen anderen Blick auf meine Filme hat. Nehmen Sie meinen Film '36 Fillette': Er wurde in Frankreich verrissen, ich wurde fertiggemacht. Wenn ich damals nicht den Atlantik überquert und den Film beim Festival in New York präsentiert hätte, wäre es das gewesen mit meiner Filmkarriere. Nur weil ich dort Zuspruch und Akzeptanz erfuhr, habe ich weitergemacht. Für mich ist es extrem wichtig, 50.000 Zuschauer im Ausland zu haben. Vielleicht noch wichtiger als 50.000 Zuschauer in Frankreich."
Als Nächstes würde Breillat – man traut seinen Ohren kaum – eine Romanze drehen. "Zuckersüß, mit Rosenbouquets und schmachtenden Blicken. Ich glaube, dass die Menschen zurzeit nichts Skandalöses sehen wollen." Sie seufzt: "Ich hoffe, dass ich Geld dafür kriege."
"L’Été Dernier" ist voraussichtlich ab 11. Jänner in den heimischen Kinos zu sehen.
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