Als Zuschauer tendiert man einmal in die eine und dann wieder in die andere Richtung. Typisch Schirach, das beherrscht der Münchener Jurist und Bestsellerautor meisterlich. Ferdinand von Schirach lockt den Zuschauer auf die falsche Fährte – dorthin, wohin auch die Gefühle wollen. Und diese haben, so führt es Schirachs neues Theaterstück „Sie sagt. Er sagt“ exemplarisch vor, im Gerichtssaal nichts verloren.
Nach dem Sterbehilfestück „Gott“ und dem Gerichtssaaldrama „Terror“ zeigen die Kammerspiele nun in der Regie von Sandra Cervik einen weiteren Justizthriller aus der Feder des Erfolgsautors. Diesmal steht in einem Strafprozess Aussage gegen Aussage. Katharina Schlüter, TV-Moderatorin, behauptet, ihr ehemaliger Geliebter habe sie missbraucht: Aus zunächst einvernehmlichem Sex sei eine Vergewaltigung geworden. Verhandelt werden hier nicht nur die berufliche und private Zukunft zweier Menschen, sondern auch Werte und Vorurteile.
Keimfrei
Die Bühne (Walter Vogelweider) ist ein keimfreier Gerichtssaal, der an ein TV-Studio aus den 70ern erinnert. Birgit Hutters Kostüme holen einen in die Gegenwart: Die TV-Moderatorin (Silvia Meisterle) trägt Sneakers zum Anzug. Ihr gehört diese Gerichtssaalbühne im ersten Drittel. Gefasst schildert sie, was ihr widerfahren ist. Dass sie für manche aufgrund ihrer Souveränität nicht wie ein Opfer wirkt, ist eine Falle und zugleich ein starkes Statement Schirachs: Wie vielen Frauen wird nicht geglaubt? Nicht von der Polizei, nicht bei Gericht? So etwas wie Parteinahme gibt es bei Schirach freilich nicht.
Herbert Föttinger wird sich in der Rolle des Angeklagten all das schweigend anhören müssen. Er darf erst um 21.11 Uhr sprechen, was er dann bravourös macht. Man glaubt ihm die Betroffenheit. Bis dahin harrt er auf der Bühne aus und muss 110 Minuten schweigen. Auch das gelingt ihm. Man kann ihm zuschauen, wie er bei all dem Gehörten förmlich verfällt.
Jeder echte Gerichtssaal hat etwas von Bühne. Allerdings will man, und darin liegt das Paradox des Genres Gerichtssaaldrama, im Theater keine Schauspieler sehen, die „Theater spielen“, sondern solche, die wirken, als wären sie „echt“. Das gelingt nicht allen und zwischendurch mangelt es hier an Tempo. Star des Abends ist Josef Lorenz als Rechtsanwalt Biegler, der sich, in dem er zu spät kommt, gleich einmal selbst einen „großen Auftritt“ verpasst und dann auch noch spöttisch fragt: „Aber es ist noch nichts Wichtiges passiert, oder?“
Biegler wird, und das ist nicht nur Lorenz’ Verdienst, das gibt das Stück her, weiterhin der genial-freche Routinier sein, der die Richterin (kompetent: Ulli Maier) sekkiert, als wäre sie eine Lehrerin. Und zugleich die bestens vorbereitete Verteidigerin (Martina Stilp) wie eine Streberin dastehen lassen. Beide werden sich mit ihren Plädoyers ein Duell liefern, bei dem Biegler mit Witz und Argumenten einen Punktesieg vor Gericht und Publikum landet. Was aber nichts heißt, denn ein Schirach ist auch in der Schlussrunde noch für eine Überraschung gut.
KURIER-Wertung: 3 1/2 von 5 Sternen