Feministische Avantgarde in Arles: Aus der Schachtel ins Rampenlicht
Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand ist da, um ihn zu hören, macht er dann ein Geräusch?
Dieses Gedankenspiel gibt es in vielen Versionen – eine fragt, ob der Baum überhaupt umgefallen ist, wenn keine Kamera das Ereignis dokumentiert hat. Sehr oft aber entstehen Fotografien, die dann in Schachteln verschwinden und jahrzehntelang ungesehen bleiben: Gabriele Schor, Leiterin der Kunstsammlung des Energiekonzerns Verbund, kann dazu viele Geschichten erzählen. Viele Werke von Frauen holte sie in den 18 Jahren ihrer Tätigkeit schon aus der Versenkung, vielen Künstlerinnen gelang dadurch ein Karriere-Neustart.
Wenn nun die „Feministische Avantgarde“ der Verbund-Sammlung im südfranzösischen Arles ausgestellt wird, ist das zunächst ein strategischer Erfolg: Denn das Festival „Rencontres de la Photographie“ ist nicht nur der wichtigste Treff der europäischen Kunstfoto-Szene – die Stadt hat auch durch das im Vorjahr eröffnete LUMA-Zentrum der Milliardärin Maja Hoffmann einen Sichtbarkeitsschub bekommen.
Nicht nur der glitzernde Turm des Architekten Frank Gehry, dessen Guggenheim-Museum schon Bilbao zur Zeitgenossen-Destination machte, gehört zum neuen Kulturbezirk: Das Areal – vor Kurzem noch Industriebrache – umfasst auch zwei massive Ausstellungshallen.
In einer ist nun der feministische Kulturexport aus Österreich zu sehen. Eine andere Auswahl der rund 600 Werke starken Sammlungssparte gastierte jüngst in der Kulturhauptstadt Novi Sad, auch die Venedig-Biennale nahm Werke der Künstlerin Birgit Jürgenssen als Leihgaben in die Hauptausstellung.
Kultur trotz Krise
Am Kulturengagement wolle man festhalten, auch wenn es angesichts explodierender Energiepreise nicht als oberste Priorität erscheinen mag: „Der Verbund fördert seit Jahrzehnten soziale, sportliche und kulturelle Projekte und übernimmt damit gesellschaftliche Verantwortung, die in Krisenzeiten umso wichtiger ist“, sagt CEO Michael Strugl auf Nachfrage und verweist auf Härtefall-Programme des Anbieters.
In Arles sind viele nun zum ersten Mal mit der Bildsprache der Frauen-Avantgarde zwischen 1969 und 1985 konfrontiert: Selbstinszenierungen, oft in beengten Räumen, Rollenspiele abseits von Hausfrau-Klischees oder offensive Darstellungen weiblicher Sexualität sind wiederkehrende Merkmale. Auch wenn in Österreich schon öfters Gelegenheit bestand, Teile der Sammlung zu sehen – etwa im Lentos 2021 oder im mumok 2017 – überrascht die Universalität der Bilder doch immer wieder: Neben Gabriele Stötzer, die sich zur Zeit der DDR vor der Kamera einschnürte, sieht man in Arles etwa frühe Werke der in Frankreich prominenten Orlan, die 1976 ihren Körper symbolisch zu Markte trug.
Das Festival müht sich aber auch an anderen Orten, verborgene Bilder aus der Schachtel zu holen. Da wäre etwa die Kirche Saint-Blaise, in der die Fotografin Susan Meiselas und die Komponistin Marta Gentilucci mit Videos und Musik dem Alter ein poetisches Denkmal setzen: Man sieht die faltigen Hände alter Frauen beim Verrichten täglicher Arbeiten, bei Spielen oder beim Durchblättern alter Fotos – und erkennt die Würde in dem, was so selten gewürdigt wird.
Als Echo der Feministischen Avantgarde erscheinen die Bilder der Österreicherin Martina Stapf, die ihren Körper in von Alltagsräumen inszeniert: Sie ist als Teil des Kollektivs „fiVe“ (gefördert von WKO und österreichischem Kulturforum) in einer Gruppenschau präsent. Unweit davon fällt Licht auf die Künstlerin Bettina Grossmann, die Jahrzehnte im legendären New Yorker Chelsea Hotel wohnte – und die großartigen Grafiken und Skulpturen, die sie dort schuf, fast niemandem zeigte.
Leerstellen
Es ist auffällig, dass sich ein Fotofestival in einer Zeit, in der Kameras scheinbar überall sind, so stark mit dem Fehlen von Bildern beschäftigt.
Da ist etwa Léa Habourdin, die Fotos von Wäldern mit natürlichen Pigmenten ausarbeitet, die mit der Zeit verblassen. Einige Beiträge greifen zu Mitteln der Fiktion, um das Fehlen bildlicher Dokumente zu kompensieren. In der Gruppenschau „If A Tree Falls in the Forest“, die das eingangs erwähnte Sprichwort zitiert, tastet sich der Südafrikaner Jansen van Staden an den Tod seines Vaters beim Absturz eines Ultraleichtflugzeugs heran: Das Bildpaar, in dem er die Asche des Verunglückten einem verunglückten Foto gegenüberstellt, in dem der Vater durch Überbelichtung „verglüht“ ist, ist unglaublich traurig.
Doch man sieht in einer anderen Schau auch jene Bilder, die die US-Journalistin Lee Miller bei der Befreiung der KZs Buchenwald und Dachau machte: Von Krematorien, Leichenbergen, ausgezehrten Häftlingen. Sie unterstreichen die zeitlose Wichtigkeit fotografischer Zeugenschaft – und geben doch nur eine Ahnung von dem, was passierte, als keine Kamera dabei war.
Der KURIER reiste auf Einladung der Sammlung Verbund nach Arles.
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